Der Schwarm
»Berufsbedingt?«
»Angeboren. Sie wollten mir ubrigens erklaren, welche Wale verschwunden sind und welche nicht.« »Ja, das wollte ich tun, aber …«
»Sie haben keine Zeit.«
Anawak zogerte. Er warf einen Blick auf die Kladde und den Laptop. Im Verlauf des Abends wurde er den Bericht fertig stellen mussen. Aber der Abend war lang.
Au?erdem verspurte er Hunger.
»Wohnen Sie im Wickaninnish Inn?«, fragte er.
»Ja.«
»Was machen Sie heute Abend?«
»Oh!« Sie hob die Augenbrauen und grinste ihn an. »Das hat mich zuletzt vor zehn Jahren einer gefragt. Wie aufregend.«
Er grinste zuruck. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mich treibt der Hunger. Ich dachte, wir setzen unser Gesprach beim Essen fort.«
»Gute Idee.« Sie lie? sich vom Baumstamm rutschen, druckte die Zigarette aus und verstaute die Kippe in ihrer Windjacke. »Aber ich warne Sie. Ich spreche mit vollem Mund. Ich rede und frage eigentlich fortgesetzt, wenn man mich nicht auf eine Weise unterhalt, dass es mir die Sprache verschlagt. Also geben Sie Ihr Bestes. Ubrigens«, sie streckte ihm die Rechte hin, »Samantha Crowe. Sagen Sie Sam, das tut jeder.«
Sie ergatterten einen Fensterplatz im rundum verglasten Restaurant. Es war dem Hotel vorgelagert und thronte auf seinem Felsen, als wolle es in See stechen. Von der erhohten Warte bot sich ein phantastischer Panoramablick auf den Clayoquot Sound mit seinen Inseln, auf die Bucht und die dahinter liegenden Walder. Der Platz eignete sich in idealer Weise, um Wale zu beobachten. Dieses Jahr allerdings musste man sich selbst an so exponierter Stelle mit den Meeresbewohnern zufrieden geben, die aus der Kuche kamen.
»Das Problem ist, dass die Transients und die Offshore Orcas fortgeblieben sind«, erlauterte Anawak. »Darum sehen wir an der Westkuste momentan so gut wie keine Orcas. Die Residents sind so zahlreich wie immer vertreten, aber sie kommen nicht gern auf diese Seite, auch wenn die Johnstone Strait allmahlich ungemutlich fur sie wird.«
»Warum das?«
»Wie wurden Sie sich fuhlen, wenn Sie Ihr Zuhause immer mehr mit Fahren, Frachtern, Luxuslinern und Sportfischern teilen mussten? Unzahlige Motorboote knattern da rum. Au?erdem lebt die Region von der Holzindustrie. Die Cargoliner fahren ganze Walder ruber nach Asien. Wenn die Baume verschwinden, versanden die Flusse, und die Lachse verlieren ihre Laichplatze. Und Residents fressen nun mal nichts anderes als Lachs.«
»Verstehe. Aber Sie sorgen sich nicht einzig um die Orcas, richtig?«
»Grau— und Buckelwale bereiten uns das meiste Kopfzerbrechen. Vielleicht haben sie einen Umweg gemacht oder sind es leid, von Booten aus angestarrt zu werden.« Er schuttelte den Kopf. »Aber so einfach ist das eben nicht. Wenn die gro?en Herden Anfang Marz vor Vancouver Island eintreffen, haben sie seit Monaten nichts im Magen. Wahrend des Winters in Baja California leben sie vom angefressenen Speck. Nur, der ist irgendwann aufgezehrt. Hier nehmen sie erstmals wieder Nahrung auf.«
»Vielleicht sind sie weiter drau?en vorbeigezogen.«
»Da gibt es nicht genug zu fressen. Den Grauwalen zum Beispiel liefert die Wickaninnish Bay einen Hauptbestandteil ihrer Nahrung, der im offenen Ozean gar nicht zu finden ist, Onuphis elegans.«
»Elegans? Klingt schick.«
Anawak lachelte.
»Es ist ein Wurm. Lang und dunn. Die Bay ist sandig, er kommt in ungeheuren Massen vor, und die Grauwale fressen ihn mit Vorliebe. Ohne die Zwischenmahlzeit wurden sie es kaum bis in die Arktis schaffen.« Er nippte an seinem Wasser. »Mitte der Achtziger war es schon mal so weit, dass keine mehr kamen. Aber man kannte den Grund. Grauwale waren damals so gut wie ausgerottet. Zu Tode gejagt. Seitdem haben wir sie wieder einigerma?en hochgepappelt. Ich schatze, an die zwanzigtausend Exemplare weltweit durften Sie mittlerweile finden, die meisten in hiesigen Gewassern.«
»Und die sind alle nicht gekommen?«
»Es gibt auch unter den Grauwalen ein paar Residents.
Die sind hier. Aber das sind nur wenige.«
»Und die Buckelwale?«
»Dieselbe Geschichte. Verschwunden.«
»Sagten Sie nicht, Sie schreiben an einem Bericht uber Belugawale?«
Anawak musterte sie.
»Wie ware es, wenn Sie mal was von sich erzahlen?«, sagte er. »Andere Leute sind namlich auch neugierig.«
Crowe warf ihm einen amusierten Blick zu.
»Tatsachlich? Sie wissen doch schon das Wichtigste. Ich bin eine alte Nervensage und stelle Fragen.«
Ein Kellner erschien und servierte gegrillte Riesengarnelen auf Safranrisotto. Eigentlich, dachte Anawak, wolltest du heute Abend alleine hier sitzen. Ohne dass dich jemand voll quasselt. Aber Crowe gefiel ihm.
»Was fragen Sie? Wen und warum?«
Crowe schalte eine knoblauchduftende Garnele aus ihrem Panzer.
»Ganz einfach. Ich frage: Ist da jemand?«
»Ist da jemand?«
»Korrekt.«
»Und wie lautet die Antwort?«
Das Garnelenfleisch verschwand zwischen zwei Reihen ebenma?iger wei?er Zahne.
»Ich habe noch keine bekommen.«
»Vielleicht sollten Sie lauter fragen«, sagte Anawak in Anspielung auf ihren Kommentar am Strand.
»Das wurde ich gerne«, sagte Crowe kauend. »Aber die Mittel und Moglichkeiten beschranken mich im Augenblick auf einen Umkreis von rund zweihundert Lichtjahren. Immerhin hatten wir Mitte der Neunziger sechzig Billionen Messungen ausgewertet, und bei siebenunddrei?ig sind wir uns bis heute nicht schlussig, ob sie naturlichen Ursprungs sind oder ob jemand tatsachlich Hallo gesagt hat.«
Anawak starrte sie an.
»SETI?«, fragte er. »Sie sind bei SETI?«
»Ganz recht. Search for Extra Terrestrial Intelligence.
Suchprojekt PHOENIX, um genau zu sein.« »Sie horchen den Weltraum ab?« »Etwa eintausend sonnenahnliche Sterne, die alter sind als drei Milliarden Jahre. Ja. Es ist nur ein Projekt von mehreren, aber vielleicht das wichtigste, wenn Sie mir die Eitelkeit gestatten.«
»Donnerwetter!« »Kriegen Sie den Mund wieder zu, Leon, so was Besonderes ist das auch wieder nicht. Sie analysieren Walgesange und versuchen rauszufinden, ob die da unten was zu erzahlen haben. Wir lauschen in den Weltraum, weil wir uberzeugt sind, dass es dort von intelligenten Zivilisationen nur so wimmelt. Wahrscheinlich sind Sie mit Ihren Walen sehr viel weiter als wir.«
»Ich habe nur ein paar Ozeane, Sie das komplette Universum.«
»Zugegeben, wir stochern in anderen Ma?staben rum. Dafur hore ich standig, dass man uber die Tiefsee noch weniger wei? als uber den Weltraum.«
Anawak war fasziniert.
»Und Sie haben tatsachlich Signale empfangen, die auf intelligentes Leben schlie?en lassen?«
Sie schuttelte den Kopf.
»Nein. Wir haben Signale empfangen, die wir nicht einordnen konnen. Die Chance, einen Kontakt herzustellen, ist uberaus gering. Vielleicht sogar au?erhalb jeder Wahrscheinlichkeit. Genau genommen musste ich mich von der nachsten Brucke sturzen vor lauter Frust, aber ich esse zu gerne diese Dinger hier, und au?erdem bin ich nun mal besessen von der Sache. Etwa so wie Sie von Ihren Walen.«
»Von denen ich wenigstens wei?, dass es sie gibt.«
»Derzeit wohl eher nicht«, lachelte Crowe.
Anawak fuhlte, wie sich tausend Fragen bereitmachten, gestellt zu werden. SETI hatte ihn seit jeher interessiert. Das Projekt zur Suche nach au?erirdischen Intelligenzen war Anfang der Neunziger von der NASA gestartet worden, sinnigerweise am Jahrestag der Ankunft Kolumbus’. Im puertoricanischen Arecibo hatte man das gro?te Radioteleskop der Erde auf ein vollig neuartiges Programm eingestellt. Inzwischen hatte SETI dank gro?zugiger Sponsoren weitere Projekte geboren, die sich rund um den Globus der Suche nach au?erirdischem Leben widmeten. PHOENIX gehorte zu den bekanntesten.
»Sind Sie die Frau, die Jodie Foster in Contact dargestellt hat?«
»Ich bin die Frau, die gerne in dieses Gefahrt steigen wurde, das Jodie Foster im Film zu den Au?erirdischen bringt. Wissen Sie, ich mache eine Ausnahme fur Sie, Leon. Normalerweise bekomme ich Schreikrampfe, wenn mich die Leute nach meiner Arbeit fragen. Ich muss jedes Mal stundenlang erklaren, was ich tue.« »Ich auch.« »Eben. Sie haben mir was erzahlt, also bin ich Ihnen was schuldig. Was wollen Sie noch wissen?« Anawak brauchte nicht lange zu uberlegen. »Warum hatten Sie bis jetzt keinen Erfolg?« Crowe wirkte belustigt. Sie schaufelte Riesengarnelen auf ihren Teller und lie? ihn eine Weile auf die Antwort warten. »Wer sagt denn, dass wir keinen hatten? Au?erdem, unsere Milchstra?e enthalt etwa einhundert Milliarden Sterne. Erdahnliche Planeten nachzuweisen stellt uns vor gewisse Schwierigkeiten, weil ihr Licht zu schwach ist. Wir konnen sie nur uber wissenschaftliche Tricks erfassen, aber theoretisch wimmelt es von ihnen. Blo?, horen Sie mal hundert Milliarden Sterne ab!« »Stimmt«, grinste Anawak. »Mit zwanzigtausend Buckelwalen tut man sich vergleichsweise leichter.« »Sie sehen ja, man wird alt und grau uber der Aufgabe. Es ist, als ob Sie die Existenz eines winzigen Fisches nachweisen sollen und dafur nacheinander jeden Liter Wasser, der in den Ozeanen flie?t, einer genauen Betrachtung unterziehen. Aber der Fisch ist beweglich. Sie konnen die Prozedur bis zum Jungsten Tag wiederholen und vielleicht zu der Ansicht gelangen, dass es besagten Fisch gar nicht gibt. Stattdessen kommt er in rauen Mengen vor, nur dass er immer gerade in einem anderen Liter schwimmt, als Sie vor sich haben. PHOENIX nun nimmt mehrere Liter gleichzeitig unter die Lupe, dafur aber beschranken wir uns — sagen wir mal — auf die Strait of Georgia. Verstehen Sie? Es gibt da drau?en Zivilisationen. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin der festen Uberzeugung, dass die Anzahl unendlich gro? ist. Dummerweise ist das Universum noch unendlich viel gro?er. Es verdunnt unsere Chancen schlimmer als der Kaffeeautomat in Arecibo den Espresso.«