Der Schwarm
Was machst du ubermorgen?«
»Nichts, was sich nicht verschieben lie?e.«
»Dann ist alles geritzt. Wir kommen beide nach, bleiben uber Nacht auf der Thorvaldson und haben jede Menge Zeit fur Beobachtungen und Auswertungen.«
»Habe ich das richtig verstanden? Du willst auch nachkommen?«
»Na ja. Ich habe … also, mir kam gerade die Idee, dass ich den halben Tag an der Kuste verbringen konnte, und du sto?t am fruhen Nachmittag dazu. Wir fliegen dann zusammen nach Gullfaks und nehmen von dort den Transfer auf die Thorvaldson.«
»Ich liebe es, dich improvisieren zu horen. Darf ich auch erfahren, warum du es so kompliziert machst?«
»Wieso? Ich mache es dir einfach.«
»Ja, mir. Aber du konntest morgen fruh an Bord gehen.«
»Ich leiste dir eben gern Gesellschaft.«
»Charmant gelogen«, sagte Johanson. »Sei’s drum. Du bist also an der Kuste. Wo genau soll ich dich aufgabeln?«
»Fahr nach Sveggesundet.«
»Oh Gott! Das Kaff? Warum denn gerade Sveggesundet?«
»Es ist ein sehr hubsches Kaff«, sagte Lund mit Nachdruck. »Wir treffen uns im Fiskehuset. Wei?t du, wo das ist?«
»Ich habe die zivilisatorischen Errungenschaften von Sveggesundet hinreichend erkundet. Ist es das Restaurant an der Kuste neben der alten Holzkirche?«
»Genau das.«
»Um drei?«
»Drei ist prima. Ich sorge fur den Helikopter. Er wird uns dort abholen.« Sie machte eine Pause. »Hast du schon irgendwelche Ergebnisse bekommen?«
»Leider nein. Aber moglicherweise morgen.«
»Das ware gut.«
»Wird schon. Mach dir keine Sorgen.«
Sie beendeten das Gesprach. Johanson runzelte die Stirn. Da war er wieder, der Wurm. Er drangelte sich zuruck an die vorderste Front und beanspruchte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Es war in der Tat verbluffend, wenn eine neue Spezies wie aus dem Nichts in einem weitgehend bekannten Okosystem auftauchte. An sich hatten Wurmer nichts Beunruhigendes an sich. Sie mochten nicht jedermanns Sache sein, und grundsatzlich missfiel Menschen die Vorstellung von organischen Kollektiven, was vornehmlich psychologische Grunde hatte. Ansonsten waren Wurmer eher nutzlich.
Es macht sogar Sinn, dass sie da sind, dachte Johanson. Wenn sie wirklich Verwandte des Eiswurms sind, leben sie indirekt von Methan. Und Methanvorkommen fanden sich an allen Kontinentalabhangen, auch vor Norwegen.
Kurios war es dennoch.
Die Ergebnisse der Taxonomen und Biochemiker wurden alle Fragen beantworten. Solange sie nicht vorlagen, konnte er sich ebenso gut wieder den Gewurztraminern von Hugel widmen. Im Gegensatz zu Wurmern kamen letztere namlich recht selten vor. Zumindest bestimmte Jahrgange.
Als er tags darauf sein Buro betrat, fand Johanson zwei personlich an ihn adressierte Briefe vor. Sie enthielten die taxonomischen Gutachten. Hochbefriedigt uberflog er die Resultate und wollte sie schon aus der Hand legen. Dann las er sie nochmal genauer.
Merkwurdige Tiere. In der Tat.
Er stopfte alles zusammen in seine Aktentasche und ging zu seiner Vorlesung. Zwei Stunden spater sa? er im Jeep und fuhr uber die hugelige Fjordlandschaft Richtung Kristiansund. Es hatte getaut. Gro?e Teile des Schnees waren verschwunden und hatten schwarzbraune Landschaft freigelegt. Das Wetter machte es einem in diesen Tagen schwer, sich richtig anzuziehen. An der Uni war die Halfte der Belegschaft erkaltet. Johanson hatte entsprechend vorgesorgt und einen Koffer gepackt, dessen Gewicht eben noch fur den Helikopterflug durchging. Weder verspurte er Lust, sich auf der Thorvaldson einen Schnupfen zu holen, noch seine Kleidung an Sachzwangen auszurichten. Lund wurde sich wie ublich daruber lustig machen, wenn er derma?en bepackt erschien, aber es war ihm gleich. Ware es nach Johanson gegangen, hatte er auch noch eine transportable Sauna eingepackt. Au?erdem enthielt sein Gepack ein paar Dinge, die man gut zu zweit genie?en konnte, wenn man gemeinsam eine Nacht auf einem Schiff verbrachte. Sie waren zwar Freunde, aber man musste ja deswegen nicht gleich auf Distanz gehen.
Johanson fuhr langsam. Er hatte Kristiansund binnen einer Stunde erreichen konnen, aber Hast war nicht seine Sache. Auf halber Strecke fuhrte die Stra?e am Wasser entlang und uber eine Reihe von Brucken.
Er genoss den Ausblick auf das wilde Panorama. Bei Halsa nahm er die Autofahre uber den Fjord und fuhr weiter nach Kristiansund. Wieder fuhrten Brucken uber schiefergraues Meer. Kristiansund selber war uber mehrere kleine Inseln verteilt. Er durchquerte die Stadt und setzte auf die geschichtstrachtige Insel Averoy uber, einen der ersten Orte, die unmittelbar nach der letzten Eiszeit besiedelt worden waren. Sveggesundet lag am au?ersten Zipfel der Insel, ein hubsches Fischerdorf. Wahrend der Hochsaison fielen hier Heerscharen von Touristen ein. Unablassig fuhren Boote zu den umliegenden Inseln hinaus. Jetzt war der Ort weniger stark frequentiert und dammerte in Erwartung eines lukrativen Sommers vor sich hin.
Kaum jemand war zu sehen, als Johanson den Jeep nach fast zwei Stunden Fahrt auf den Schotterparkplatz des Fiskehuset lenkte, eines Restaurants mit Terrasse und Blick aufs Meer. Es hatte geschlossen. Lund sa? ungeachtet der Kalte an einem der Holztische im Freien. Sie war in Begleitung eines jungen Mannes, den Johanson nicht kannte. Etwas an der Art, wie sie da nebeneinander auf der holzernen Bank hockten, lie? einen gewissen Verdacht in ihm keimen. Er trat naher heran und rausperte sich.
»Bin ich zu fruh?«
Sie schaute auf. In ihren Augen stand ein merkwurdiger Glanz. Sein Blick wanderte zu dem Mann neben ihr, einem athletisch gebauten Endzwanziger mit dunkelblonden Haaren und einem gut geschnittenen Gesicht, und der Verdacht wurde zur Gewissheit.
»Ich konnte nochmal wiederkommen«, sagte er gedehnt.
»Kare Sverdrup«, stellte sie vor. »Sigur Johanson.«
Der Blonde grinste Johanson an und streckte die Rechte aus. »Tina hat mir eine Menge von Ihnen erzahlt.«
»Ich hoffe, nichts, was Sie beunruhigen musste.«
Sverdrup lachte.
»Doch, eigentlich schon. Sie waren ein au?erst attraktiver Vertreter der vorlesenden Zunft.«
»Ein au?erst attraktiver alter Sack«, verbesserte ihn Lund.
»Geiler alter Sack«, erganzte Johanson. Er setzte sich auf die gegenuberliegende Bank, zog den Kragen seines Anoraks hoch und legte die Aktenmappe mit den Gutachten neben sich. »Der taxonomische Teil. Sehr ausfuhrlich. Ich kann dir eine Zusammenfassung geben.« Er sah Sverdrup an. »Wir mochten Sie ungerne langweilen, Kare. Hat Tina Ihnen erzahlt, worum es geht, oder hat sie nur verliebt geseufzt?«
Lund warf ihm einen bosen Blick zu.
»Verstehe.« Er offnete die Mappe und zog den Umschlag mit den Gutachten hervor. »Also, ich habe einen deiner Wurmer ans Frankfurter Senckenberg-Museum geschickt und einen weiteren ans Smithsonian Institute. Da wie dort sitzen die besten Taxonomen, die ich kenne. Beide sind Spezialisten fur jegliches Gewurm. Ein weiterer Wurm ist nach Kiel gegangen zur Rasterelektronenmikroskopie, der Bericht steht noch aus, ebenso der aus der Massenspektrometeranalyse. Vorab kann ich dir sagen, worin sich die Experten einig sind.«
»Namlich?«
Johanson lehnte sich zuruck und schlug die Beine ubereinander. »Darin, dass sie sich nicht einig sind.«
»Wie aufschlussreich.«
»Im Wesentlichen haben sie meinen ersten Eindruck bestatigt. Es handelt sich mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Art Hesiocaeca methanicola, auch bekannt als Eiswurm.«
»Der Methanfresser?«
»Unkorrekt ausgedruckt, mein Schatz, aber egal. So weit Teil eins. Teil zwei ist, dass ihnen die enorm ausgepragten Kiefer und Zahnreihen zu denken geben. Solche Merkmale deuten auf ein rauberisches Tier hin oder auf ein bohrendes oder mahlendes. Und das ist seltsam.«
»Warum?«
»Weil Eiswurmer solche Riesenapparate eigentlich nicht brauchen. Sie haben zwar Kiefer, aber erheblich kleinere.«