Der Schwarm
»Ich schatze, Sie haben Besseres zu tun, als mir den Victor zu erklaren«, mutma?te Johanson.
»Kein Problem.« Alban grinste. »Tina wird sich eines Tages nochmal selber uberholen. Sie sind der Mann von der NTNU, richtig? Sie haben die Wurmer untersucht.«
»Ich habe meine Meinung dazu abgegeben. Warum bereiten Ihnen die Tiere so viel Kopfzerbrechen?«
Alban winkte ab.
»Wir machen uns eher Sorgen um die Beschaffenheit des Bodens hier am Hang. Die Wurmer haben wir zufallig entdeckt, sie beschaftigen vornehmlich Tinas Phantasie.«
»Ich dachte, Sie lassen den Roboter wegen der Wurmer runter«, wunderte sich Johanson.
»Hat Tina Ihnen das erzahlt?« Alban sah zu dem Automaten ruber und schuttelte den Kopf. »Nein, das ist nur ein Teil der Mission. Naturlich nehmen wir hier nichts auf die leichte Schulter, aber hauptsachlich bereiten wir den Einsatz einer Langzeitmessstation vor. Wir platzieren sie direkt uber dem delektierten Olvorkommen. Wenn wir zu dem Schluss gelangen, dass der Platz sicher ist, kommt eine unterseeische Forderstation dahin.«
»Tina sagte etwas von einem SWOP.«
Alban warf ihm einen Blick zu, als sei er nicht sicher, wie er darauf antworten solle.
»Eigentlich nicht. Die Unterwasserfabrik ist so gut wie unter Dach und Fach. Sollte sich was geandert haben, ist es mir entgangen.«
Aha. Es wurde keine schwimmende Plattform geben.
Vielleicht war es besser, das Thema nicht zu vertiefen. Johanson fragte Alban weiter uber den Tauchroboter aus.
»Es ist ein Victor 6000, ein Remotely Operated Vehicle, kurz ROV«, erklarte Alban. »Er kann bis in Tiefen von 6000 Metern vorsto?en und dort einige Tage arbeiten. Wir steuern ihn von hier oben und empfangen samtliche Daten in Echtzeit, alles uber Kabel. Diesmal bleibt er 48 Stunden unten. Nebenbei soll er naturlich auch einen Arm voll Wurmer einsacken. Statoil will sich nicht vorwerfen lassen, die Biodiversitat zu gefahrden.« Er machte eine Pause. »Was ist denn Ihre Meinung zu den Viechern?«
»Keine«, sagte Johanson ausweichend. »Vorlaufig.« Maschinenlarm klang auf. Johanson sah, wie sich der Ausleger in Bewegung setzte und den Victor in die Hohe hievte.
»Kommen Sie«, sagte Alban. Weiter mittschiffs waren funf mannshohe Container installiert, zu denen sie hinubergingen. »Die meisten Schiffe sind gar nicht fur den Einsatz des Victor eingerichtet. Wir haben ihn von der Polarstern ausgeliehen, weil er bei uns gerade noch draufpasst.«
»Was ist in den Containern?«
»Die Hydraulikeinheit fur die Winde, Aggregate, aller mogliche Krempel. Im vorderen befindet sich der ROV-Kontrollraum. Sto?en Sie sich nicht den Kopf.«
Sie traten durch eine niedrige Tur. Es war eng in dem Container. Johanson sah sich um. Uber die Halfte des Raumes nahm das Steuerpult mit den beiden Bildschirmreihen ein. Einige der Monitore waren ausgeschaltet, andere stellten die Betriebsdaten des ROVs und Navigationsinformationen dar. Vor den Bildschirmen sa?en mehrere Manner. Auch Lund war anwesend.
»Der da in der Mitte im Fahrstand, das ist der Pilot«, erklarte Alban leise. »Rechts daneben der Copilot, der auch den Greifarm bedient. Victor arbeitet sensibel und prazise, aber entsprechend geschickt muss man sein, um mit ihm klarzukommen. Der nachste Sitz gehort dem Koordinator. Er unterhalt den Kontakt zum Wachoffizier auf der Brucke, damit das Schiff und der Roboter optimal zusammenwirken. Zur anderen Seite hin sitzen die Wissenschaftler. Das da ist Tinas Platz. Sie wird die Kameras bedienen und die Bilder speichern. — Sind wir so weit?«
»Ihr konnt ihn runterlassen«, sagte Lund.
Nacheinander sprangen die restlichen Monitore an. Johanson erkannte Teile des Hecks und des Auslegers, Himmel und Meer. »Sie sehen jetzt, was Victor sieht«, erlauterte Alban. »Er verfugt uber acht Kameras. Eine Hauptkamera mit Zoom, zwei Pilotobjektive zur Navigation und funf Zusatzkameras. Die Bildqualitat ist au?erordentlich gut, selbst in mehreren tausend Metern Tiefe bekommen wir filmreife Szenen zu sehen, gestochen scharf und in brillanten Farben.«
Die Kameraperspektiven veranderten sich. Der Roboter wurde abgesenkt. Das Meer kam naher, dann schwappte Wasser uber die Objektive. Victor sank weiter. Die Monitore zeigten eine blaugrune Welt, die langsam truber wurde.
Der Container fullte sich. Manner und Frauen, die zuvor am Ausleger gearbeitet hatten. Es wurde noch enger.
»Scheinwerfer an«, sagte der Koordinator.
Mit einem Mal erhellte sich der Raum um Victor. Es blieb diffus. Das Blaugrun verblasste und wich erleuchtetem Schwarz. Einige kleine Fische gerieten ins Bild, dann schien alles erfullt von winzigen Luftblasen. Johanson wusste, dass es sich in Wirklichkeit um Plankton handelte, Milliarden von Kleinstlebewesen. Rote Medusen und transparente Rippenquallen zogen vorbei.
Nach einer Weile wurde der Partikelschwarm dunner. Die Tiefenanzeige wies funfhundert Meter aus. »Was genau macht Victor, wenn er unten angekommen ist?«, fragte Johanson.
»Er entnimmt Wasser— und Sedimentproben, au?erdem sammelt er Lebewesen ein«, antwortete Lund, ohne sich umzudrehen. »Vor allem liefert er Videomaterial.«
Etwas Zerkluftetes schob sich ins Bild. Victor sank entlang einer Steilwand abwarts. Rote und orangefarbene Langusten winkten ihnen mit langen Fuhlern zu. Hier unten war es bereits stockdunkel, aber die Scheinwerfer und Kameras brachten die naturlichen Farben der Lebewesen verbluffend intensiv zur Geltung. Victor zog weiter an Schwammen und Seegurken vorbei, dann wurde das Terrain allmahlich flacher.
»Wir sind so weit«, sagte Lund. »680 Meter.«
»Okay.« Der Pilot beugte sich nach vorne. »Fliegen wir eine Kurve.«
Der Hang verschwand von den Bildschirmen. Eine Zeit lang sahen sie wieder freies Wasser, dann zeichnete sich in der blauschwarzen Tiefe plotzlich Meeresboden ab.
»Victor kann millimetergenau navigieren«, sagte Alban sichtlich stolz zu Johanson. »Sie konnten ihn Garn einfadeln lassen, wenn Sie wollten.«
»Danke, das besorgt mein Schneider. Wo genau ist er jetzt?«
»Direkt uber einem Plateau. Im Untergrund lagert eine gewaltige Menge Ol.«
»Auch Methanhydrat?«
Alban sah ihn nachdenklich an. »Ja, sicher. Warum fragen Sie?«
»Nur so. Und hier will Statoil die Fabrik installieren?«
»Es ist unsere Wunschposition. Sofern nichts dagegen spricht.«
»Zum Beispiel Wurmer.«
Alban zuckte die Achseln. Johanson merkte, dass der Franzose das Thema nicht mochte. Sie sahen zu, wie der Roboter die fremde Welt uberflog, dahinstaksende Meerspinnen uberholte und Fische, die im Sediment wuhlten. Die Kameras erfassten Ansiedlungen von Schwammen, Leuchtquallen und kleine Tintenfische. Besonders reich besiedelt war das Meer hier nicht, aber es gab eine Vielfalt unterschiedlichster Bodenbewohner. Nach einer Weile wurde die Landschaft pockennarbig und rau. Streifige Strukturen zogen sich uber den Grund dahin.
»Ubersedimentierte Rutschungen«, sagte Lund. »Am norwegischen Hang ist schon einiges ins Rutschen gekommen.«
»Was ist mit diesen riffeligen Strukturen?«, fragte Johanson. Der Boden hatte sich wieder verandert.
»So was bringen die Stromungen mit sich. Wir steuern auf den Rand des Plateaus zu.« Sie machte eine Pause. »Nicht weit von hier haben wir die Wurmer gefunden.«
Sie starrten auf die Bildschirme. Etwas anderes war im Licht der Scheinwerfer aufgetaucht. Helle, gro?flachige Verfarbungen.
»Bakterienmatten«, bemerkte Johanson.
»Ja. Anzeichen von Methanhydrat.«
»Da«, sagte der Pilot.
Rissige, wei?e Flachen kamen ins Bild. Hier lagerte gefrorenes Methan direkt am Boden. Plotzlich erkannte Johanson noch etwas. Auch die anderen sahen es. Mit einem Mal wurde es totenstill im Kontrollraum.
Teile des Hydrats waren unter rosafarbenem Gewimmel verschwunden. Zuerst waren noch einzelne Leiber auszumachen. Dann wurde die Menge der sich windenden Korper unuberschaubar. Rosa Rohren mit wei?en Buscheln krochen uber— und untereinander her.