Der Schwarm
Er war allein.
Einen Moment lang verharrte Ucanan. Er schickte ein kurzes Gebet an San Pedro, ihn glucklich und wohlbehalten nach Hause zu bringen, das Boot voller Fische. Dann nahm er einen tiefen Zug von der salzigen Morgenluft, holte das Calcal hervor und lie? es ohne Hast ins Wasser gleiten. Die hakenbesetzten Maschen verschwanden nach und nach im glasernen Dunkel, bis nur noch die rote Boje neben dem Caballito trieb.
Was sollte passieren? Das Wetter war schon, und au?erdem wusste Ucanan sehr genau, wo er sich befand. In unmittelbarer Nahe hob sich vom Meeresboden ein Massiv aus erstarrter Lava empor, ein kleiner, zerklufteter Gebirgszug. Seine Spitzen reichten bis dicht unter die Wasseroberflache. Seeanemonen siedelten darauf, Muscheln und Krebse. Eine Vielzahl kleiner Fische hauste in den Spalten und Hohlen. Aber auch gro?e Vertreter wie Thuns, Bonitos und Schwertfische kamen, um zu jagen. Fur die Trawler war es zu gefahrlich, hier zu fischen, sie liefen Gefahr, von den scharfen Felskanten aufgeschlitzt zu werden, und au?erdem gab das Gebiet nicht genug her fur einen gro?eren Fang.
Fur den mutigen Reiter eines Caballito wurde es mehr als reichen.
Ucanan lachelte zum ersten Mal an diesem Tag. Er schaukelte auf und nieder. Ein wenig hoher als in unmittelbarer Kustennahe waren die Wellen hier schon, aber es war immer noch sehr komfortabel auf seinem Binsenflo?. Er reckte die Glieder und blinzelte in die Sonne, die fahlgelb uber den Bergen aufgestiegen war. Dann ergriff er wieder das Paddel und lenkte sein Caballito mit wenigen Sto?en in die Stromung. Er ging in die Hocke und richtete sich darauf ein, wahrend der nachsten Stunde die Boje zu beobachten, die ein Stuck weit vom Boot uber das Wasser tanzte.
Nach einer knappen Stunde hatte er drei Bonitos gefangen. Fett und glanzend lagen sie im offenen Stauraum des Caballito.
Ucanan geriet in Hochstimmung. Das war besser als die Ausbeute der letzten vier Wochen … Im Grunde hatte er jetzt zuruckkehren konnen, aber da er schon mal hier war, konnte er ebenso gut noch warten. Der Tag hatte erfreulich begonnen. Moglich, dass er noch besser endete.
Au?erdem hatte er alle Zeit der Welt.
Wahrend das Caballito gemachlich entlang der Klippen dahintrieb, lie? er dem Calcal mehr Leine und sah zu, wie sich die Boje hupfend entfernte. Immer wieder suchte sein Blick die Wasseroberflache nach Aufhellungen ab, wo die Felsen in die Hohe wuchsen. Es war wichtig, dass er ausreichend Abstand hielt, um das Netz nicht zu gefahrden. Er gahnte.
Am Seil war ein leichtes Ruckeln zu spuren.
Im nachsten Moment verschwand die Boje im Gezack der Wellen. Dann tauchte sie wieder auf, schoss empor, tanzte einige Sekunden wild hin und her und wurde erneut hinabgerissen.
Ucanan packte das Seil. Es spannte sich in seinem Griff und fetzte ihm die Haut von den Handflachen. Er fluchte. Im nachsten Moment legte sich das Caballito auf die Seite. Ucanan lie? los, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Tief im Wasser blitzte die Boje rotlich auf. Das Seil stand steil nach unten, straff wie eine Sehne, und zog das Heck des kleinen Schilfboots langsam hinab.
Was zum Teufel war da los?
Irgendetwas musste ins Netz gegangen sein, etwas Gro?es und Schweres. Ein Schwertfisch vielleicht. Aber ein Schwertfisch hatte mehr Tempo vorgelegt und das Caballito mit sich fortgerissen. Was immer sich in den Maschen verfangen hatte, wollte nach unten.
Hastig versuchte Ucanan das Seil wieder in die Finger zu bekommen. Ein erneuter Ruck ging durch das Boot. Er wurde nach vorne gerissen und landete in den Wellen. Beim Untertauchen bekam er Wasser in die Lungen. Hustend und spuckend tauchte er auf und sah das Caballito halb uberflutet. Der spitze Bug stand steil in die Hohe. Aus dem offenen Stauraum im Heck trieben die gefangenen Bonitos zuruck ins Meer. Beim Anblick der versinkenden Fische packten ihn Wut und Erbitterung. Sie waren verloren. Er konnte ihnen nicht nachtauchen, weil er alle Hande voll zu tun hatte, das Caballito zu retten und damit sich selber.
Der Fang eines Vormittags. Alles umsonst!
Ein Stuck weiter trieb das Paddel. Ucanan schenkte ihm keine Beachtung. Er konnte es spater holen. Mit aller Kraft warf er sich der Lange nach uber den Bug und versuchte ihn hinabzudrucken. Damit geriet er vollends unter Wasser, mitsamt dem Caballito, das weiterhin erbarmungslos hinabgezogen wurde. In fieberhafter Hast robbte er uber die glatten Binsen zum Heck. Seine Rechte tastete im Innern des Stauraums umher, bis er gefunden hatte, was er suchte. San Pedro sei Dank! Sein Messer war nicht herausgeschwemmt worden, und auch nicht die Tauchermaske, neben dem Calcal sein kostbarster Besitz.
Mit einem Hieb durchtrennte er das Seil.
Sofort schnellte das Caballito nach oben und wirbelte Ucanans Korper um seine Achse. Er sah den Himmel uber sich kreisen, geriet erneut mit dem Kopf unter Wasser und fand sich endlich keuchend auf dem Binsenboot liegend, das wieder gemachlich dahinschaukelte, als sei nichts geschehen.
Verwirrt richtete er sich auf. Von der Boje war nichts zu sehen. Sein Blick suchte die Oberflache nach dem Paddel ab. Es trieb nicht weit von ihm in den Wellen. Mit den Handen steuerte Ucanan das Caballito darauf zu, bis er das Paddel zu sich heranziehen konnte, legte es vor sich hin und musterte die nahere Umgebung.
Das waren sie, die hellen Flecken im kristallklaren Wasser.
Ucanan fluchte lang anhaltend und lautstark. Er war den unterseeischen Formationen zu nah gekommen, und das Calcal hatte sich darin verfangen. Kein Wunder, dass es ihn nach unten gezogen hatte. Idiotische Tagtraumereien, denen er sich hingegeben hatte. Und wo das Netz war, dort war naturlich auch die Boje. Solange es in den Felsen hing, konnte sie nicht aufsteigen, sie war ja fest damit verbunden.
Ucanan uberlegte.
Ja, das war die Antwort, so musste es sein. Dennoch erstaunte ihn die Heftigkeit, mit der es ihn um ein Haar ins Verderben gerissen hatte. Es schien die einzig plausible Erklarung, dass er das Netz an die Felsen verloren hatte, aber Reste von Zweifel blieben.
Das Netz verloren!
Er durfte das Netz nicht verlieren.
Mit schnellen Paddelschlagen brachte Ucanan das Caballito dorthin zuruck, wo sich das kurze Drama abgespielt hatte. Er spahte nach unten und versuchte im klaren Wasser etwas zu erkennen, aber au?er einigen konturlosen Aufhellungen sah er nichts. Von Netz und Boje keine Spur.
War es wirklich hier gewesen?
Er war Seemann. Er hatte sein Leben auf dem Meer verbracht. Auch ohne technische Geratschaften wusste Ucanan, dass er an der richtigen Stelle war. Hier hatte er das Seil kappen mussen, damit sein Binsenschiff nicht auseinander gerissen wurde. Irgendwo dort unten war sein Netz.
Er wurde es holen mussen.
Der Gedanke hinabzutauchen war Ucanan alles andere als angenehm. Wie die meisten Fischer war er — obschon ein ausgezeichneter Schwimmer — im Grunde wasserscheu. Kaum ein Fischer liebte das Meer wirklich. Es rief ihn hinaus, jeden Tag aufs Neue, und viele, die ihr Lebtag gefischt hatten, konnten ohne seine Allgegenwart nicht leben, aber mit ihr lebten sie auch nicht sonderlich gut. Das Meer verbrauchte ihre Lebenskraft, behielt nach jedem Fischzug etwas davon ein und hinterlie? verdorrte, schweigsame Gestalten in Hafenkneipen, die nichts mehr erwarteten.
Aber Ucanan besa? ja seinen Schatz! Das Geschenk eines Touristen, den er im Vorjahr mit rausgenommen hatte. Er holte die Tauchermaske aus dem Stauraum, spuckte hinein und verrieb den Speichel sorgfaltig, damit sie unter Wasser nicht beschlug. Dann spulte er die Maske im Meerwasser aus, presste sie auf sein Gesicht und zog den Riemen uber den Hinterkopf. Es war sogar eine ziemlich teure Maske, mit Randern aus weichem, anschmiegsamem Latex. Ein Atemgerat oder einen Schnorchel besa? er nicht, aber das war auch nicht notig. Er konnte die Luft lange genug anhalten, um ein ordentliches Stuck hinabzutauchen und ein Netz von den Felsen zu zurren.