Der Schwarm
Doch diesmal schienen die Tiere irgendwo zwischen Kalifornien und Kanada verloren gegangen zu sein. Auch heute fand das Abenteuer nicht statt. Kameras wurden weggepackt. Zu Hause wurde es nichts zu erzahlen geben, au?er dass man an einer moglicherweise reizvollen Felsenkuste vorbeigefahren war, die sich den Blicken hinter Vorhangen aus Regen entzog.
Anawak, gewohnt, zu allen Sichtungen Erklarungen und Kommentare abzugeben, spurte seine Zunge am Gaumen kleben. Im Verlauf der letzten anderthalb Stunden hatte er die Geschichte der Region heruntergebetet und Anekdoten zum Besten gegeben, um die Stimmung nicht ganzlich absaufen zu lassen. Inzwischen schien ihm, dass niemand mehr etwas uber Wale und Schwarzbaren horen wollte.
Sein Vorrat an Ablenkungsmanovern war erschopft. In seinem Schadel zirkulierte die Frage nach dem Verbleib der Wale. Wahrscheinlich hatte er sich eher um den Verbleib der zahlenden Touristen sorgen sollen, aber er konnte nicht aus seiner Haut.
»Wir fahren zuruck«, beschied er.
Enttauschtes Schweigen. Fur die Ruckfahrt durch den Clayoquot Sound wurden sie eine gute Dreiviertelstunde brauchen. Er beschloss, den Nachmittag wenigstens rasant zu beenden. Ohnehin waren sie alle nass bis auf die Knochen. Das Zodiac verfugte uber zwei PS-starke Motoren, die eine adrenalinfordernde Fahrt garantierten, wenn man sie voll aufdrehte. Alles, was er den Leuten jetzt noch bieten konnte, war Geschwindigkeit.
Als die Stelzenhauser von Tofino mit dem Pier der Station in Sicht kamen, horte es unvermittelt auf zu regnen. Die Hugel und Bergrucken erschienen wie aus grauem Karton geschnitten, die Gipfel in Dunst und Wolken gehullt. Anawak half den Passagieren heraus, bevor er das Zodiac festmachte. Die Stiege zum Pier war glitschig. Auf der Terrasse des Stationsgebaudes versammelten sich bereits die nachsten Abenteurer, die das Abenteuer vergeblich suchen wurden. Anawak verschwendete keinen Gedanken an sie. Er war es leid, sich die Sorgen anderer zu machen.
»Wenn das so weitergeht, mussen wir umsatteln«, sagte Susan Stringer, als er den Verkaufs— und Ticketraum betrat. Sie stand hinter der Theke und schichtete Prospekte in dafur vorgesehene Stander. »Wir konnten Waldeichhornchen beobachten, was meinst du?«
Die Whaling Station war ein gemutlicher Bazar, voll gepackt mit Kunsthandwerk, Andenkenkitsch, Kleidung und Buchern. Susan Stringer arbeitete als Office Manager bei Davies. Wie einst Anawak, nutzte auch sie den Job, um ihr Studium zu finanzieren. Anawak, seit vier Jahren promoviert, war Davies als Skipper treu geblieben. Er hatte die Sommermonate der vergangenen Jahre genutzt, um ein viel beachtetes Buch uber Intelligenz und Sozialstruktur von Meeressaugern zu veroffentlichen und sich mit spektakularen Experimenten die Hochachtung der Fachwelt zu erwerben. Mittlerweile, da er als aufsteigender Stern gehandelt wurde, trudelten wohlklingende Angebote ein, verlockend dotierte Posten, neben denen das Bild vom anspruchslosen Leben inmitten der Natur Vancouver Islands zunehmend an Scharfe verlor. Anawak wusste, dass er fruher oder spater nachgeben und in eine dieser Stadte umsiedeln wurde, aus denen die Offerten kamen. Die Entwicklung schien vorgezeichnet. Er war 31 Jahre alt. Bald wurde er eine Dozentur ubernehmen oder einen Forschungsposten in einem der gro?en Institute, er wurde Artikel in Fachzeitschriften veroffentlichen und zu Kongressen reisen und das kostspielige Obergeschoss eines Hauses bewohnen, gegen dessen Fundamente die Wogen des Berufsverkehrs brandeten.
Er begann, seine Regenmontur aufzuknopfen.
»Wenn man wenigstens was tun konnte«, sagte er duster.
»Was denn tun?«
»Suchen.«
»Wolltest du nicht mit Rod Palm uber die Auswertungen der telemetrischen Untersuchungen sprechen?«
»Hab ich gemacht.«
»Und?«
»Da ist nicht viel passiert, wie es aussieht. Sie haben ein paar Tummler und Seelowen im Januar mit Fahrtenschreibern ausgerustet, und das war’s. Die Daten liegen vor, aber samtliche Aufzeichnungen enden kurz nach Migrationsbeginn. Danach: Funkstille.«
Stringer zuckte die Achseln. »Mach dir keine Gedanken. Sie werden schon kommen. Ein paar Tausend Wale gehen nicht so mir nichts dir nichts verloren.«
»Offenbar doch.«
Sie grinste. »Vielleicht stehen sie bei Seattle im Stau.
Bei Seattle ist immer Stau.«
»Sehr komisch.«
»Komm, mach dich locker! In fruheren Jahren haben sie sich auch schon mal verspatet. Was meinst du, sehen wir uns heute Abend bei Schooners?«
»Ich … nein. Ich muss das Experiment mit dem Beluga vorbereiten.«
Sie musterte ihn streng. »Wenn du mich fragst, ubertreibst du es ein bisschen mit der Arbeit.«
Anawak schuttelte den Kopf.
»Ich muss das machen, Susan. Es ist mir wichtig, und au?erdem versteh ich nichts von Borsenkursen.«
Der Seitenhieb galt Roddy Walker, Stringers Freund. Er war Broker in Vancouver und verbrachte ein paar Tage in Tofino. Seine Vorstellung von Urlaub schien im Wesentlichen darin zu bestehen, jedermann abwechselnd mit seinem Handy und irgendwelchen Finanztipps auf die Nerven zu gehen, beides in gehobener Lautstarke. Stringer hatte langst begriffen, dass da keine Freundschaft heranwuchs, insbesondere seitdem Walker Anawak einen qualenden Abend lang mit Fragen nach seiner Herkunft gelochert hatte.
»Du wirst es vielleicht nicht glauben«, sagte sie, »aber Roddy kann auch uber was ganz anderes sprechen.«
»Tatsachlich?«
»Wenn man ihn nett bittet.«
Es klang ein bisschen spitz.
»Schon gut«, sagte Anawak. »Ich komme spater nach.«
»Quatsch. Du kommst ohnehin nicht nach.«
Anawak grinste.
»Wenn du mich nett bittest.«
Naturlich wurde er nicht kommen. Er wusste es, und Stringer wusste es auch. Dennoch sagte sie: »Wir treffen uns gegen acht, falls du’s dir uberlegst. Vielleicht solltest du deinen muschelbewachsenen Arsch ja doch noch ruberwuchten. Toms Schwester ist da, und sie steht auf dich.«
Toms Schwester war nicht das schlechteste Argument. Aber Tom Shoemaker war kaufmannischer Geschaftsfuhrer von Davies, und Anawak missfiel der Gedanke, sich allzu eng an einen Ort zu binden, den er sich gerade auszureden versuchte.
»Ich werd’s mir uberlegen.«
Stringer lachte, schuttelte den Kopf und ging hinaus.
Anawak bediente eine Weile hereinkommende Kunden, bis Tom erschien und ihn fur den Rest des Tages abloste. Er trat hinaus auf Tofinos Hauptstra?e. Dames Whaling Station lag gleich am Ortseingang. Das Gebaude war hubsch, ein typisches Holzhaus mit rotem Giebel, uberdachter Terrasse und einer vorgelagerten Rasenflache, aus der als Wahrzeichen eine sieben Meter hohe Walfluke aus Zedernholz wuchs. In unmittelbarer Nachbarschaft begann dichter Tannenwald. Es sah hier exakt so aus, wie sich Europaer Kanada gemeinhin vorstellten. Die Einheimischen trugen das ihre dazu bei, indem sie abends im Schein der Windlichter ausfuhrlich von Begegnungen mit Baren im eigenen Vorgarten oder Ausritten auf Walbuckeln erzahlten. Nicht alles davon stimmte, aber doch das meiste. Vancouver Island pflegte seinen Mythos als Kanada-Konzentrat mit gro?em Eifer. Der westliche Kustenstreifen zwischen Tofino und Port Renfrew mit seinen sanft abfallenden Stranden, den einsamen, von jahrhundertealten Tannen und Zedern umstandenen Buchten, Sumpfen, Flussen und zerklufteten Landschaften lockte jedes Jahr Scharen von Besuchern an. Vom Ufer aus waren mit etwas Gluck Grauwale zu beobachten, Otter und Seelowen, die sich in Kustennahe sonnten. Auch wenn das Meer Regen im Uberschwang schickte, kam die Insel dem Paradies nach Meinung vieler hier am nachsten.
Anawak hatte keinen Blick dafur.
Er ging ein Stuck in den Ort hinein und bog zu einem Pier ab. Ein zwolf Meter langes Segelschiff lag dort vor Anker, alt und baufallig. Es gehorte Davie. Der Stationschef scheute die Kosten, um es wieder seetuchtig zu machen. Stattdessen hatte er es fur einen lacherlichen Betrag an Anawak vermietet, der nun dort lebte und sein eigentliches Zuhause, ein winziges Appartement in Vancouver City, kaum noch aufsuchte. Nur wenn er langere Zeit in der Stadt zu tun hatte, kam es zu vorubergehenden Ehren.