Admiral Bolithos Erbe: Ein Handstreich in der Biskaya
Gerne hatte Bolitho zu den erschopften Mannern gesprochen, die bereits viel von ihrer Individualitat und Zielstrebigkeit eingebu?t hatten, als sie jetzt wie eine Herde Schafe mit ungeduldigen Gesten und Kolbensto?en von ihren Bewachern zusammengetrieben wurden. Aber so blickte er sich nur nach den Zivilisten um, die ihnen folgten, Frauen zumeist, mit irgendwelchen Lasten auf den Armen, Brotkorbchen oder Waschebundeln; der Krieg hatte sie bei ihren Alltagsgeschaften uberrascht.
Weiter unten auf der Stra?e drangte sich ein Mann durch die Menge und versuchte, einen Matrosen an der Schulter zu packen. Aber der Soldat daneben hob drohend den Arm, und der Angreifer zog sich zuruck. Wer mochte das gewesen sein? uberlegte Bo-litho. Der Angehorige eines franzosischen Gefallenen? Oder ein Veteran, der im Krieg halb verruckt geworden war? Seltsamerweise hatte der englische Seemann die Drohgebarde nicht einmal bemerkt und trottete weiterhin folgsam hinter seinem Vordermann her.
Browne flusterte:»Sie haben eine Kutsche fur uns bereitgestellt, Sir.»
Also wurden sie jetzt endgultig getrennt. Ein franzosischer Marineleutnant war auf den Plan getreten und eifrig dabei, sich Notizen uber die Gefangenen zu machen, wobei er ihnen mit Gesten bedeutete wie sie sich aufzustellen hatten, jeder gema? seinem
Rang.
Die Midshipmen benahmen sich wie erfahrene Veteranen, stellte Bolitho fest. Der junge Kilburne lachelte ihn sogar an und griff gru?end an den Hut, als er mit seinen Kameraden und einer Handvoll jungerer Decksoffiziere abgesondert und die Stra?e hinunter geschickt wurde.
Der Artilleriehauptmann schien sich etwas zu entspannen. Egal, was jetzt noch geschehen mochte, er konnte es unter Kontrolle halten.
Er wies auf die Kutsche, ein schabiges Gefahrt mit zerkratztem Anstrich. Wahrscheinlich aus dem Nachla? irgendeines hingerichteten Aristokraten, dachte Bolitho.
Wutend funkelte Allday einen Soldaten an, dessen blankes Bajonett ihm den Weg versperrte. Endlich nickte der Marineleutnant knapp und lie? Allday hinter Bolitho in die Kutsche klettern.
Die Tur wurde zugeschlagen, und Bolitho konnte seine Gefahrten genauer betrachten. Browne neben ihm pre?te die Lippen fest zusammen und bemuhte sich offenbar, sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Druben lehnte Neale, der jetzt einen provisorischen Kopfverband trug, und neben ihm der letzte der noch uberlebenden Offiziere, der bewu?tlose Dritte.
Allday grunzte.»Kein Wunder, da? sie mich mitkommen lie?en. Schlie?lich braucht man immer einen Dummen, der seine Vorgesetzten Huckepack tragt.»
Es war ein schwacher Versuch, witzig zu sein, aber er ruhrte Bo-litho so sehr, da? er die Hand ausstreckte und Alldays breites Handgelenk packte.
Allday schuttelte den Kopf.»Sie brauchen nichts zu sagen, Sir. Wenn's Ihnen so geht wie mir, dann druckt Ihnen jetzt der Zorn die Kehle zu. «Er warf einen grimmigen Blick zum schmutzverschmierten Fenster, weil die Kutsche mit einem Ruck angefahren war.»Aber wenn uns die Galle hochkommt, dann sollten diese Lackaffen lieber aufpassen. So wahr mir Gott helfe!»
Browne lie? sich gegen die rissige Lehne zurucksinken und schlo? die Augen. Neale sah schrecklich aus, und dem Leutnant, durch dessen Armverband bereits wieder Blut sickerte, schien es sogar noch schlechter zu gehen. Browne spurte zum erstenmal Angst in sich aufwallen. Angenommen, sie trennten ihn von Boli-tho und Allday, was dann? Vermi?t in einem fremden Land, wahrscheinlich schon fur tot erklart… Er ri? sich zusammen und offnete die Augen.
Mit belegter Stimme sagte er:»Ich habe nachgedacht, Sir.»
«Was?«Bolitho erschrak, weil er furchtete, da? jetzt auch Browne einen Zusammenbruch erlitt.
Der aber lie? sich von Bolithos starrem Blick nicht beirren.»Es war fast so, als wurden wir erwartet, Sir«, fuhr er fort.»Als ob sie uber unsere Aktionen von Anfang an im Bilde gewesen waren.»
Bolitho blickte an Browne vorbei durchs Fenster auf die armseligen Hutten neben der Stra?e und die Huhner, die vor ihrer Kutsche davonstoben.
Das Haar in der Suppe. Die Ungereimtheit, die ihn schon die ganze Zeit gestort hatte. Und ausgerechnet Browne war darauf gesto?en.
In der schwankenden, schlecht gefederten Kutsche wurde ihnen die Reise zur Qual. Die Landstra?e bestand fast nur aus Schlaglochern, und sie wurden so furchtbar durchgeruttelt, da? Neale oder Algar, der Dritte Offizier, immer wieder vor Schmerzen aufschrien. Ihre drei unverletzten Gefahrten bemuhten sich vergeblich, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Jeder Versuch, die Kutsche zum Anhalten zu bringen oder nur zu gema?igterer Fahrt, war sinnlos. Sobald Bolitho die Aufmerksamkeit des Kutschers auf dem Bock wecken wollte, galoppierte jedesmal ein Kurassier herbei, schwang seinen Sabel und scheuchte ihn vom Fenster weg.
Trotz seiner Kopfschmerzen und Niedergeschlagenheit bemuhte sich Bolitho nachzudenken; was sprach fur, was gegen Brownes Idee, da? die Franzosen im voraus uber die Bewegungen der britischen Schiffe informiert gewesen waren? Im Augenblick fuhrte die Stra?e weg von der See, und zwar, soweit er es beurteilen konnte, in nordostlicher Richtung. Die Luft roch nach Feldern, frischer Erde und Tieren — also eine bauerliche Gegend. Fast wie in Cornwall, dachte er vage. Bolitho fuhlte sich wie ein Wild in der Falle, dem sich nirgends ein Fluchtweg bot. Er hatte Beauchamps Vertrauen enttauscht, hatte Belinda verloren. Manner, die an ihn glaubten, hatte er mit seiner Taktik in den Tod geschickt. Mit brennenden Augen starrte er durchs Kutschenfenster. Sogar den Familiensabel hatte er verloren.
Brownes Stimme weckte ihn aus seinen Depressionen.»Ich habe eben einen steinernen Wegweiser gesehen, Sir. Wir scheinen nach Nantes zu fahren.»
Bolitho nickte. Das konnte durchaus sein, die Richtung stimmte jedenfalls.
Bald darauf wurde die Kutsche etwas langsamer, und Bolitho zog seine Schlusse daraus.»Sie mussen Befehl haben, uns vor Einbruch der Dunkelheit dort hinzubringen.»
«Hoffentlich noch lebend. «Allday rieb dem Leutnant das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab.»Was gabe ich jetzt fur einen kraftigen Schluck!»
Zogernd fragte Browne:»Was wird wohl aus uns, Sir?»
Bolitho dampfte die Stimme.»Kapitan Neale wird zweifellos gegen einen gefangenen Franzosen von gleichem Rang ausgetauscht — das hei?t, falls er reisefahig ist.»
Beide blickten Leutnant Algar an, und Bolitho setzte leise hinzu:»Ich furchte, da? er einen Austausch nicht mehr erleben wird. «Auch bei Neale war das noch zweifelhaft, dachte er. Selbst wenn er durchkam und die beste Pflege fand, wurde er nie wieder der alte werden. Laut fuhr er fort:»Und was Sie betrifft — stimmen Sie jedem Austausch zu, Oliver, den die Franzosen Ihnen vorschlagen.»
«Auf keinen Fall«, rief Browne aus.»Ich kann Sie doch nicht verlassen, Sir. Was verlangen Sie da von mir?»
Bolitho wandte den Blick ab.»Ihre Treue ruhrt mich, Oliver, aber ich mu? darauf bestehen. Es ware absurd, in Gefangenschaft zu bleiben, wenn sich Ihnen eine gegenteilige Chance bietet.»
Duster fragte Allday:»Hei?t das, Sie selbst rechnen nicht mit einem Austausch, Sir?»
Bolitho hob die Schultern.»Schwer zu sagen. Admirale werden nicht gerade haufig gefangengenommen. «Er konnte die Verbitterung in seinem Ton nicht unterdrucken.»Aber wir werden ja sehen.»
Allday verschrankte die muskulosen Arme.»Ich bleibe jedenfalls bei Ihnen, Sir. Das ist beschlossene Sache.»
Endlich kam die Kutsche schwankend zum Stehen. Wahrend zwei Kurassiere zu ihren beiden Seiten Aufstellung nahmen, sa? der Rest ihrer Eskorte ab. Vor dem Fenster neben Bolitho erschien ein Gesicht: der franzosische Marineleutnant. Nach dem scharfen Ritt uber Land war sein blauer Uniformrock staubbedeckt.
Der Offizier griff gru?end an seinen Hut, offnete kurz die Tur und sagte in gebrochenem Englisch:»Jetzt dauert es nicht mehr lange, M'sieu. «Mit einem Blick auf die beiden Verwundeten fugte er hinzu:»Dort wartet schon ein Arzt auf Sie.»