Admiral Bolithos Erbe: Ein Handstreich in der Biskaya
«Verstehe. «Das war Herricks Art, ihm anzudeuten, da? kein Brief von Belinda gekommen war.
Bolitho blickte durchs Fenster hinaus. Der Himmel war klar wie am Tag zuvor, die See jedoch etwas rauher. Aber er konnte Wind gebrauchen, wenn er schnell zu den Schiffen des BlockadeGeschwaders sto?en wollte, uber das er den Oberbefehl erhalten hatte. Das Gebiet um Belle Ile war ein Drehkreuz im System der patrouillierenden Geschwader, die den Blockadedienst von Gibraltar bis zu den Kanalhafen aufrechterhielten. Sonnenklar, da? Beau-champ ihn ins Zentrum des Geschehens schicken wollte. Dieses spezielle Einsatzgebiet umfa?te im Norden die Zufahrtswege nach Lorient und im Osten die wichtigsten Ansteuerungsrouten zur Loire-Mundung. Von hier aus konnte man zwar einen Wurgegriff um die Handels- und Nachschubwege des Feindes legen; andererseits war es riskantes Terrain fur eine unachtsame britische Fregatte oder Brigg, die sich an einer Leekuste uberraschen lie? oder zu beschaftigt war mit dem Auskundschaften eines franzosischen Hafens, um einen schnellen Angreifer rechtzeitig zu bemerken.
Styx war Bolitho nicht fremd. Er hatte schon ofter an Bord geweilt und in der Ostsee ihren jungen Kommandanten mit der Kaltblutigkeit eines Veteranen kampfen gesehen.
Argerlich uber seine Tagtraumerei warf Bolitho das Handtuch in die Ecke. Er durfte nicht dauernd uber Vergangenes grubeln. Mu?te nur an das denken, was vor ihm lag, an die Schiffe, deren Schicksal bald von ihm abhangen wurde. Er war jetzt Flaggoffizier und mu?te wie Herrick endlich begreifen, da? eine so hohe Beforderung eine Auszeichnung war und nicht sein Recht, das die Versehung ihm schuldete.
Verlegen lachelnd bemerkte er, da? die anderen ihn anstarrten.
Milde erkundigte Allday sich:»Sie haben es sich vielleicht anders uberlegt, Sir?»
«Was denn, zum Teufel?»
Allday hob den Blick zur Kajutdecke.»Na ja, Sir — ich meine. Im Vergleich hierzu wird uns Styx vorkommen wie ein Heringfa?, nicht wie ein Schiff!»
Herrick schuttelte den Kopf.»Allday, eines Tages nehmen Sie sich noch mal zuviel heraus. Und dann geht's Ihnen schlecht, alter Knabe. «Er sah zu Bolitho hinuber.»Trotzdem ist was dran. Sie konnten Ihre Flagge auch auf Nicator setzen, und ich wurde das Kommando ubernehmen, bis.»
Bolitho blieb fest.»Geben Sie's auf, alter Freund, es bringt keinen von uns beiden weiter. Ab heute sind Sie Kommodore und werden unter dem Ihnen zustehenden Wimpel segeln. Bald sollten Sie Ihren eigenen Flaggkapitan ernennen und sich uber die Bestallung eines neuen Kommandanten fur Indomitable klarwerden.»
Wieder mu?te Bolitho eine Erinnerung beiseite schieben. Indo-mitable war vor Kopenhagen im dicksten Schlamassel gewesen, und erst nach dem Feuereinstellungsbefehl hatte Bolitho erfahren, da? ihr Kommandant, Kapitan Charles Keverne, im Gefecht gefallen war. Keverne war Bolithos Erster Offizier gewesen, als er selbst noch Flaggkapitan gewesen war wie Herrick bis gestern. Alles Glieder einer Kette. Und da ein Glied nach dem anderen herausgebrochen wurde, schien die Kette immer kurzer und kurzer zu werden.
Bolitho ri? sich zusammen.»Und uberhaupt — ich kann hier nicht quengeln wie ein gruner Junge. Die Entscheidung war nicht unsere Sache.»
Schritte polterten auf dem Seitendeck drau?en, und Bolitho wu?te ebenso wie Herrick, da? dies ihre letzten ungestorten Augenblicke waren. Bald wurden sich hier alle die Klinke in die Hand geben: die um ihre Befehle einkommenden Offiziere, die Behordenvertreter aus Plymouth und sonstwo, denen man mit Schmeicheleien und Bestechung eine schnellere Beendigung der Reparaturarbeiten abringen mu?te. Yovell, Bolithos Sekretar, wurde ihm noch mehr Briefe zur Unterschrift vorlegen, Ozzard mu?te Anwe i-sungen erhalten, was er einpacken sollte und was auf Benbow blieb, bis… Er runzelte die Stirn. Bis wann?
Herrick wandte sich abrupt um, als der Wachtposten drau?en den Ersten Offizier ankundigte.
«Ich werde an Deck gebraucht«, sagte er klaglich.
Bolitho ergriff seine Hand.»Ich bedaure sehr, da? ich nicht an Bord sein werde, wenn Ihr Wimpel zum erstenmal ausweht. Aber da ich nun mal gehen mu?, will ich es schnell hinter mich bringen.»
Wolfe trat in die Tur.»Pardon, Sir, aber es kommt Besuch an Bord. «Erblickte Bolitho an, dessen Herz einen Schlag aussetzte. Aber seine freudige Uberraschung fiel in nichts zusammen, als Wolfe trocken fortfuhr:»Ihr Flaggleutnant ist eingetroffen, Sir.»
«Browne?«rief Herrick aus.
Allday verbi? sich ein Grinsen.»Browne mit e«, konstatierte er. Bolitho lie? sich in seinen Stuhl sinken.»Schicken Sie ihn rein.»
Der Ehrenwerte Leutnant Oliver Browne war ihm von Beau-champ als Flaggleutnant beigegeben worden. Obwohl er Bolitho bei ihrem ersten Kontakt wie ein hohlkopfiger Junker vorgekommen war, hatte Browne sich dem neu ernannten Admiral bald als wertvoller Berater erwiesen — und spater auch als Freund. Als das Geschwader schwer angeschlagen von der Ostsee zuruckgekehrt war, hatte Bolitho Browne freie Wahl gelassen: zu seinen zivili-sierteren Aufgaben und Lebensumstanden in London zuruckzukehren oder weiter als sein Flaggleutnant zu dienen.
Als Browne die Kajute betrat, sah er fur seine Verhaltnisse abgehetzt und derangiert aus. Herrick und Wolfe empfahlen sich schnell, und Bolitho bemerkte:»Das ist eine Uberraschung.»
Der Leutnant sank auf einen hingeschobenen Stuhl, und als sein Mantel dabei auseinanderklaffte, erkannte Bolitho Schwei?flecken auf den Innenseiten seiner Breeches. Er mu?te wie ein Wahnsinniger geritten sein.
Heiser begann Browne zu berichten.»Sir George Beauchamp ist letzte Nacht gestorben, Sir. Er fertigte noch die Befehle fur Ihr Geschwader aus und dann. «Er zuckte mit den Schultern.»Es passierte, wahrend er uber den Karten an seinem Schreibtisch sa?. «Kopfschuttelnd schlo? Browne:»Dachte, Sie sollten das schnell erfahren, Sir. Noch bevor Sie nach Belle Ile auslaufen.»
Bolitho wu?te aus Erfahrung, da? man Browne besser nicht danach fragte, woher er Informationen uber Dinge besa?, die eigentlich als geheim galten.
«Ozzard, frischen Kaffee fur meinen Flaggleutnant!«Bolitho sah, da? Brownes erschopftes Gesicht kurz aufleuchtete.»Falls es das ist, was Sie furderhin zu sein beabsichtigen?»
Browne lockerte sein Halstuch und schuttelte sich.»Doch, Sir, darum wollte ich Sie hoflichst ersuchen. Ich wunsche mir nichts sehnlicher, als dieses stinkende London verlassen zu durfen.»
Uber ihren Kopfen verriet das Schrillen der Pfeifen und Quietschen der Taljen, da? wieder Vorrate und Ausrustungsgegenstande an Bord gehievt wurden. Aber hier unten in der Kajute war es still, wahrend Browne beschrieb, wie Beauchamp an seinem Schreibtisch, uber seinem kaum getrockneten Namenszug unter den letzten Befehlen tot zusammengebrochen war.
Scheinbar gleichmutig schlo? Browne:»Ich habe mich mit diesen Befehlen direkt zu Ihnen auf den Weg gemacht, Sir. Waren Sie ausgelaufen, ehe ich hier eintraf, hatten sie Sie wahrscheinlich nie erreicht; man hatte Ihnen kaum eine Kurierbrigg mit den Depeschen nachgeschickt.»
«Wollen Sie damit sagen, da? Sir Georges Plan widerrufen worden ware?»
Nachdenklich starrte Browne in seine Kaffeetasse.»Eher auf unbestimmte Zeit verschoben. Ich furchte, an der Spitze gibt es zu viele Leute, die nur den Friedensvertrag mit Frankreich im Kopf haben — nicht als Atempause, wofur ihn Lord St. Vincent und einige andere halten, sondern als eine gro?e Chance zu Geschafte-macherei und Bereicherung, wie sie ein Waffenstillstand nun einmal mit sich bringt. In ihren Augen bedeutet angesichts des nahen Friedens jeder Angriff auf franzosische Hafen oder Schiffe eine Quertreiberei und keineswegs eine gunstigere Verhandlungsposition.»
«Vielen Dank, da? Sie mich daruber ins Bild setzen. «Bolitho sah uber Brownes Kopf hinweg zu den beiden gekreuzten Sabeln an der Schottwand. Was wu?ten Manner wie jene, die sein Flaggleutnant gerade charakterisiert hatte, von Ehre und Anstand?