Kanonenfutter - Leutnant Bolithos Handstreich in Rio
«Boot ahoi!»
Sein Bootsmann antwortete:»Aye! Zur Destiny!»
Bolitho bemerkte einige Bewegung an der Fallreepspforte, aber keine gro?e Aufregung. Die Antwort auf den Anruf hatte genug ausgesagt.»Aye «hie?: Das Boot brachte einen Offizier, der aber nicht alt genug war, um jemanden an Bord zu beunruhigen, geschweige denn den Kommandanten.
Bolitho stand auf, als zwei Matrosen ins Boot sprangen, um es festzuhalten und seine Kiste herauszuholen. Bolitho musterte sie kurz. Er war noch nicht ganz achtzehn Jahre, aber seit seinem zwolften Lebensjahr auf See und hatte in dieser Zeit gelernt, Matrosen einzuschatzen.
Sie sahen kraftig und zah aus, aber das Au?ere konnte manches verbergen. Viele Seeleute waren der Auswurf von Gefangnissen und Schwurgerichten, die man an Bord geschickt hatte, anstatt sie zu deportieren oder dem Henker zu ubergeben.
Die Matrosen traten in dem dumpelnden Boot beiseite, als Bolitho dem Ruderer Geld gab. Der Mann steckte es in sein Wams und grinste.»Danke, Sir. Und viel Gluck!»
Bolitho kletterte das Fallreep hoch und trat durch die Pforte im Schanzkleid aufs Deck der Fregatte. Er staunte uber den Unterschied zu einem Linienschiff, obwohl er ihn erwartet hatte. Die Destiny schien nahezu chaotisch vollgestopft mit vielerlei Dingen; von den zwanzig Zwolfpfundern auf ihrem Oberdeck bis zu den kleineren Stucken weiter achtern schien jeder Quadratzoll sinnvoll genutzt. Da lagen und hingen sauber aufgeschossene Schoten, Fallen und Brassen, standen in ihren Klampen festgezurrte Beiboote und exakt ausgerichtete Musketen in ihren Gestellen am Fu? jedes Mastes, wahrend dazwischen und uberall sonst, wo noch Platz war, Manner hantierten, die er alle bald namentlich kennen wurde.
Ein Leutnant trat zwischen den Fallreepsgasten vor und fragte:»Mr.
Bolitho?»
Bolitho ruckte seinen Hut zurecht.»Aye, Sir. Melde mich an Bord!»
Der Leutnant nickte nur kurz.»Folgen Sie mir. Ihre Sachen lasse ich nach achtern bringen. «Er gab einem Matrosen eine leise Anweisung und rief dann laut:»Mr. Timbrell! Schicken Sie ein paar Leute in den Vortopp! Es sah da oben aus wie in einem Affenstall, als ich das letz-temal nachschaute.»
Bolitho zog im letzten Augenblick den Kopf ein, als sie unter den Uberhang des Achterdecks traten. Auch hier schien ihm alles eng und uberfullt: noch mehr Kanonen, jede sorgsam hinter ihrer geschlossenen Stuckpforte festgezurrt, dazu der Geruch von Teer und Tauwerk, frischer Farbe und eng zusammengedrangten Menschen — das Flair eines lebenden Schiffes.
Er versuchte, den Leutnant, der ihn nach achtern zur Offiziersmesse fuhrte, abzuschatzen. Er war schlank, hatte ein rundes Gesicht und den etwas gequalten Ausdruck eines Mannes, der zeitweise Verantwortung tragt.
«Da waren wir.»
Der Leutnant offnete eine Lamellentur, und Bolitho trat in sein ne u-es Heim. Trotz der Zwolfpfunder mit ihren schwarzen Mundungen, die daran erinnerten, da? es an Bord eines Kriegsschiffes keinen Platz gab, der vor herumfliegendem Eisen sicher war, sah der Raum uberraschend gemutlich aus. Er enthielt einen langen Tisch wie in einem Kadettenlogis, aber mit hochlehnigen Stuhlen statt der Banke, wie er sie jahrelang gewohnt gewesen war. Dann gab es Wandgestelle fur Trinkglaser, andere fur Sabel und Pistolen, und der Fu?boden war mit bemaltem Segeltuch bespannt.
Der Leutnant wandte sich zu Bolitho um und musterte ihn aufmerksam.»Ich hei?e Stephen Rhodes und bin der Zweite Offizier. «Er lachelte und wirkte dadurch junger, als Bolitho ihn eingeschatzt hatte.»Da dies Ihr erstes Kommando als Offizier ist, will ich versuchen, es Ihnen so leicht wie moglich zu machen. Nennen Sie mich Stephen, wenn Sie wollen, aber vor den Leuten >Sir<. «Rhodes wandte den Kopf und rief:»Poad!»
Ein kleiner hagerer Mann in blauem Jackett huschte durch eine andere Tur herein.
«Bringen Sie Wein, Poad. Dies ist unser neuer Dritter Offizier.»
Poad machte eine kleine Verbeugung.»Ist mir ein Vergnugen, Sir.»
Als er davoneilte, bemerkte Rhodes:»Ein guter Steward, aber er klaut. Sie lassen also besser nichts Wertvolles herumliegen. «Er wurde wieder ernst.»Unser Erster Offizier ist in Plymouth, hat da irgendwas zu erledigen. Er hei?t Charles Palliser. Anfangs wirkt er etwas barsch. Er ist schon seit Indienststellung der Destiny mit unserem Kommandanten an Bord. «Unvermittelt wechselte er das Thema.»Sie konnen froh sein, dieses Kommando bekommen zu haben. «Es klang wie ein Vorwurf.»Sie sind noch sehr jung. Ich bin dreiundzwanzig und nur darum schon Zweiter Offizier, weil mein Vorganger umgekommen ist.»
«Im Kampf gefallen?»
Rhodes grinste.»Nein, nichts Heroisches. Er wurde von einem Pferd abgeworfen und brach sich das Genick. Ein prima Bursche in seiner Art, aber so ist es nun einmal.»
Bolitho beobachtete den Messe-Steward, der Glaser und eine Flasche in Reichweite von Rhodes abstellte. Er sagte:»Ich war selber uberrascht, als ich diese Kommandierung bekam.»
Rhodes sah ihn forschend an.»Das klingt nicht sehr begeistert. Sind Sie nicht gern zu uns gekommen? Mann, es gibt Hunderte, die vor Freude an die Decke springen wurden, wenn sich ihnen eine solche Chance bote.»
Bolitho schaute weg. Ein schlechter Anfang.
«Das ist es nicht. Aber mein bester Freund wurde vor einem Monat getotet. «Jetzt war es heraus.»Ich kann es immer noch nicht glauben.»
Rhodes' Blick wurde milder; er schob ihm ein Glas hin.
«Trinken Sie, Richard. Das wu?te ich nicht. Manchmal kann ich es nicht begreifen, warum wir all dies hier auf uns nehmen, anstatt — wie andere — bequem an Land zu leben.»
Bolitho lachelte ihn an. Au?er seiner Mutter zuliebe hatte er in letzter Zeit kaum einmal gelachelt.
«Was haben wir fur Befehle, Stephen?»
Rhodes lie? sich in seinen Stuhl zuruckfallen.»Niemand au?er unserem Kommandanten wei? Bestimmtes. Wir machen eine lange Reise sudwarts, das ist gewi?. In die Karibik vielleicht oder noch weiter. «Er schuttelte sich und starrte auf die nachste Stuckpforte.»Gott, bin ich froh, da? wir diese Nasse hier bald hinter uns haben. «Er nahm einen schnellen Schluck.»Wir haben eine gute Besatzung, zum gro?ten Teil wenigstens, mit den ublichen Galgenvogeln dazwischen. Der Steuermann ist erst kurzlich vom Maat zum Deckoffizier befordert worden, aber er ist ein guter Navigator, wenn er auch gegenuber seinen Vorgesetzten manchmal etwas wichtig tut. Und heute abend werden wir unser volles Kontingent an Midshipmen bekommen. Zwei davon sind erst zwolf, beziehungsweise dreizehn Jahre alt. «Er grinste.»Seien Sie nicht zu lasch mit ihnen, Richard, nur weil Sie selber vor kurzem Midshipman waren. Wenn etwas schiefgeht, sind namlich Sie dran, nicht die Jungen.»
Rhodes zog eine Uhr aus der Hosentasche.»Der Erste Offizier mu? jeden Augenblick zuruckkommen. Ich scheuche jetzt besser schon die Fallreepsgaste raus. Er liebt eine tadellose Vorstellung, wenn er an Bord kommt.»
Er zeigte auf eine kleine, mit Segeltuchwanden abgeteilte Kammer.»Die gehort Ihnen, Richard. Sagen Sie Poad, was Sie brauchen, dann wird er die anderen Stewards anweisen, sich darum zu kummern. «Impulsiv streckte er Bolitho die Hand hin.»Schon, da? Sie bei uns sind. Willkommen!»
Bolitho sa? in der leeren Messe und lauschte auf das Gerausch der Blocke und Leinen und der trappelnden Fu?e uber seinem Kopf. Er horte rauhe Stimmen, das Trillern einer Bootsmannsmaatenpfeife, als irgendein Ausrustungsstuck aus einem langsseit liegenden Boot an Bord gehievt wurde, um dort registriert und in irgendeiner Last verstaut zu werden.
Bald wurde Bolitho die Gesichter der Mannschaft kennen, ihre Starken und ihre Schwachen. Und in dieser niedrigen Messe wurde er sein tagliches Leben, seine Hoffnungen und Enttauschungen mit seinen Messekameraden teilen: mit den beiden anderen Wachoffizieren, mit dem Offizier der Seesoldaten, dem neuernannten Steuermann, dem Schiffsarzt und dem Zahlmeister — den wenigen Auserwahlten unter der Besatzung von rund zweihundert Seelen.