Der Schwarm
4. Marz
Trondheim, norwegische KusteIm Grunde war die Stadt viel zu gemutlich fur Hochschulen und Forschungszentren. Besonders in Bakklandet oder auf dem Mollenberg wollte sich das Bild einer Technologiemetropole partout nicht einstellen. Inmitten der bunten Idylle aus modernisierten Holzhausern, Parks und dorflich anmutenden Kirchen, Stelzenbauten am Fluss und pittoresken Hinterhofen kam jedes Gefuhl fur Fortschritt abhanden, obschon die NTNU, Norwegens gro?e technische Universitat, gleich um die Ecke lag.
Kaum eine Stadt wob Vergangenes und Kommendes so kongenial ineinander wie Trondheim. Und eben darum schatzte sich Sigur Johanson glucklich, in Mollenbergs zeitentruckter Kirkegata zu wohnen, im Erdgeschoss eines ockerfarbenen Giebeldachhauschens mit wei? gestrichener Vortreppe und Tursturz, dass es jedem Hollywood-Regisseur die Tranen in die Augen getrieben hatte. Wenngleich er dem Schicksal dafur dankte, ihn der Meeresbiologie verpflichtet zu haben und damit einem der gegenwartigsten Forschungszweige uberhaupt, interessierte ihn das Hier und Jetzt nur sehr bedingt. Johanson war Visionar und wie alle Visionare dem vollig Neuartigen ebenso zugetan wie vergangenen Idealen. Sein Leben war getragen vom Geiste Jules Vernes. Niemand hatte den hei?en Atem des Maschinenzeitalters, erzkonservative Ritterlichkeit und die Lust am Unmoglichen so treffend zu vereinen gewusst wie der gro?e Franzose. Einzig die Gegenwart war eine Schnecke, die auf ihrem Buckel Sachzwange und Profanitaten mit sich schleppte. Sie fand keinen rechten Platz im Kosmos Sigur Johansons. Er diente ihr, erkannte, was sie von ihm verlangte, bereicherte ihren Fundus und verachtete sie fur das, was sie daraus machte.
Als er den Jeep an diesem Spatvormittag uber die winterliche Ovre Bakklandet zum Forschungsgelande der NTNU steuerte, den glitzernden Lauf der Nidelva zur Rechten, hatte die Vergangenheit ein ausgedehntes Wochenende lang ihr Recht beansprucht. Er war in den Waldern gewesen und hatte weit abgelegene Dorfer besucht, an denen die Zeit vorubergegangen war. Im Sommer hatte er dafur den Jaguar genommen, im Kofferraum einen Picknickkorb mit frisch gebackenem Brot, stanniolverpackter Ganseleberpastete vom Feinkosthandler und einer kleinen Flasche Gewurztraminer, bevorzugter Jahrgang 1985. Seit Johanson von Oslo hergezogen war, hatte er sich eine ganze Reihe Platze zu Eigen gemacht, die nicht von erholungsbedurftigen Trondheimern und Touristen uberlaufen wurden. Vor zwei Jahren war er durch Zufall ans Ufer eines versteckten Sees gelangt und dort zu seinem Entzucken auf ein kleines, arg renovierungsbedurftiges Landhaus gesto?en. Den Besitzer ausfindig zu machen, hatte Zeit gekostet — er arbeitete in leitender Position fur Norwegens staatliche Erdolforderungsgesellschaft Statoil und lebte mittlerweile in Stavanger —, dafur vollzog sich der Erwerb des Hauses umso schneller. Der Mann war froh, jemanden gefunden zu haben, der es ubernahm, und verkaufte es fur einen Spottpreis. In den Wochen darauf lie? Johanson die marode Hutte von ein paar illegal eingereisten Russen gunstig instand setzen, bis sie seiner Vorstellung jener Refugien entsprach, die Bonvivants des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Land— und Lustsitz gedient haben mochten.
Dort, mit Blick auf den See, sa? er an langen Sommerabenden auf der Veranda, las die Visionare unter den Klassikern von Thomas More bis Jonathan Swift und H. G. Wells, horte Mahler und Sibelius, lauschte dem Klavierspiel Glenn Goulds und Celibidaces Einspielungen der Sinfonien von Ravel. Er hatte sich eine umfangreiche Bibliothek zugelegt. Ebenso wie seine CDs besa? Johanson auch seine Lieblingsbucher fast samtlich doppelt. Weder auf das eine noch das andere gedachte er zu verzichten, egal, wo er sich gerade aufhielt.
Johanson steuerte den Wagen das sanft ansteigende Gelande hoch. Vor ihm lag das Hauptgebaude der NTNU, ein gewaltiger, schlossahnlicher Bau aus dem beginnenden 20. Jahrhundert, uberzuckert von Schnee. Dahinter erstreckte sich das eigentliche Universitatsgelande mit seinen Unterrichtsgebauden und Laboratorien. 10000 Studenten bevolkerten ein Areal, das eine kleine Stadt fur sich war. Uberall wogte larmende Geschaftigkeit. Johanson gestattete sich einen Seufzer des Wohlbehagens. Es war wunderbar gewesen am See, einsam und au?erordentlich inspirierend. Im vergangenen Sommer hatte er einige Male die Assistentin des Departmentleiters fur Kardiologie mitgenommen, eine Bekanntschaft aus gemeinsamen Vortragsreisen. Sie waren ziemlich schnell zur Sache gekommen, aber am Ende des Sommers hatte Johanson die Liaison fur beendet erklart. Er wollte sich nicht binden, zumal er die Realitat durchaus einzuschatzen wusste. Er war 56 Jahre alt, sie 30 Jahre junger. Schon fur ein paar Wochen. Indiskutabel fur ein Leben, uber dessen Schwelle Johanson ohnehin nur wenige lie? und je gelassen hatte.
Er parkte auf dem fur ihn reservierten Platz und ging hinuber zum Gebaude der naturwissenschaftlichen Fakultat. Auf dem Weg zum Buro umrundete er in Gedanken ein letztes Mal den See und ubersah beinahe Tina Lund, die am Fenster stand und sich bei seinem Eintreten umdrehte.
»Du bist ein bisschen spat«, frotzelte sie. »War’s der Rotwein, oder wollte dich irgendwer nicht gehen lassen?«
Johanson grinste. Lund arbeitete fur Statoil und trieb sich derzeit vorzugsweise in den Forschungsstatten von Sintef herum. Die Stiftung gehorte zu den gro?ten unabhangigen Forschungseinrichtungen Europas. Speziell die norwegische Offshore-Industrie verdankte ihr einige bahnbrechende Entwicklungen. Es war nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit zwischen Sintef und der NTNU, die Trondheims Ruf als Zentrum der Technologieforschung mitbegrundet hatte. Sintef-Einrichtungen verteilten sich uber die ganze Umgebung. Lund, die es im Verlauf einer kurzen und steilen Karriere zur stellvertretenden Projektleiterin fur die Erschlie?ung neuer Erdolvorkommen gebracht hatte, hatte erst vor wenigen Wochen ihr Lager im mannetechnischen Institut Marintek aufgeschlagen, ebenfalls ein Sintef-Ableger.
Johanson betrachtete ihre hoch gewachsene, schlanke Gestalt, wahrend er sich aus seinem Mantel schalte. Er mochte Tina Lund. Um ein Haar hatten sie was miteinander angefangen vor einigen Jahren, aber irgendwie waren sie dann auf halber Strecke ubereingekommen, es besser bei einer guten Freundschaft zu belassen. Seitdem tauschten sie sich uber ihre Arbeit aus und gingen manchmal zusammen essen.
»Alte Manner mussen ausschlafen«, erwiderte Johanson. »Willst du einen Kaffee?«
»Wenn einer da ist.«
Er schaute ins Sekretariat und fand eine volle Kanne vor. Seine Sekretarin war nirgendwo zu sehen.
»Nur Milch«, rief Lund.
»Ich wei?.« Johanson verteilte den Kaffee auf zwei gro?e Becher, gab Milch in ihren und ging zuruck in sein Buro. »Ich wei? alles uber dich. Schon vergessen?«
»So weit bist du nie gekommen.«
»Nein, dem Himmel sei Dank. Setz dich. Was fuhrt dich her?«
Lund nahm ihren Kaffee, nippte daran, machte jedoch keine Anstalten, Platz zu nehmen.
»Ich schatze, ein Wurm.«
Johanson hob die Brauen und musterte sie. Lund erwiderte seinen Blick, als erwarte sie eine Stellungnahme, bevor sie die Frage dazu gestellt hatte. Das war typisch. Sie war von ungeduldigem Temperament.
Er trank einen Schluck.
»Du schatzt?«
Statt einer Antwort nahm sie einen Behalter aus mattem Stahl von der Fensterbank und stellte ihn vor Johanson auf den Schreibtisch. Er war verschlossen. »Schau mal da rein.«
Johanson entriegelte den Deckel und klappte ihn auf. Der Behalter war bis zur Halfte mit Wasser gefullt. Etwas Haariges, Langes wand sich darin. Johanson betrachtete es aufmerksam.
»Hast du eine Ahnung, was es ist?«, fragte Lund.
Er zuckte die Achseln.
»Wurmer. Zwei Stuck. Recht stattliche Exemplare.«