Der Schwarm
»Der Ansicht sind wir auch. Nur die Art macht uns Kopfzerbrechen.«
»Ihr seid eben keine Biologen. Es sind Polychaten. Borstenwurmer, wenn dir das was sagt.«
»Ich wei?, was Polychaten sind.« Sie zogerte. »Kannst du sie untersuchen und klassifizieren? Wir brauchen das Gutachten allerdings ziemlich schnell.«
»Na ja.« Johanson beugte sich tiefer uber den kleinen Tank. »Wie ich schon sagte, es sind definitiv Borstenwurmer. Sehr hubsch ubrigens. Schon bunt. Der Meeresboden ist bevolkert von den Viechern, keine Ahnung, welche Art es ist. Woruber macht ihr euch Gedanken?«
»Wenn wir das wussten.«
»Nicht mal das wisst ihr?«
»Sie stammen vom Kontinentalrand. Aus 700 Metern Tiefe.«
Johanson kratzte sich das Kinn. Die Tiere im Behalter zuckten und wanden sich. Sie wollen fressen, dachte er, nur dass nichts da ist, was sie fressen konnten. Er fand es bemerkenswert, dass sie uberhaupt lebten. Den meisten Organismen bekam es nicht sonderlich gut, wenn man sie aus so gro?er Tiefe nach oben brachte.
Er blickte auf.
»Ich kann sie mir ja mal ansehen. Morgen vielleicht?«
»Das ware gut.« Sie machte eine Pause. »Dir ist was daran aufgefallen, stimmt’s? Es war in deinen Augen zu sehen.«
»Moglicherweise.«
»Was ist es?«
»Kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich bin kein Artenkundler, kein Taxonom. Es gibt Borstenwurmer in allen moglichen Farben und Formen. Nicht mal ich kenne das komplette Angebot, und ich wei? schon eine ganze Menge. Die hier scheinen mir … na ja, ich wei? es eben noch nicht.«
»Schade.« Lunds Gesichtsausdruck verdusterte sich. Dann lachelte sie unvermittelt. »Warum begibst du dich nicht sofort an die Untersuchungen und teilst mir deine Einsichten bei einem Mittagessen mit?«
»So schnell? Was glaubst du eigentlich, was ich hier mache?«
»Wenn ich bedenke, um welche Uhrzeit du aufgekreuzt bist, kannst du jedenfalls nicht in Arbeit ersaufen.«
Dummerweise hatte sie Recht.
»Na gut«, seufzte Johanson. »Treffen wir uns meinethalben um eins in der Cafeteria. Darf ich kleine Stuckchen aus ihnen rausschneiden, oder hattest du vor, dich naher mit ihnen zu befreunden?«
»Mach, was du fur richtig haltst. Bis spater, Sigur.«
Sie eilte hinaus. Johanson sah ihr nach und fragte sich, ob es nicht doch ganz lustig hatte werden konnen mit ihr. Aber Tina Lund verbrachte ihr Leben im Laufschritt. Zu hektisch fur jemanden wie ihn, der es beschaulich liebte und anderen ungern hinterherlief.
Er sah die Post durch, fuhrte eine Reihe uberfalliger Telefonate und verfrachtete den Behalter mit den Wurmern schlie?lich ins Laboratorium. Es gab keinen Zweifel daran, dass es sich um Polychaten handelte. Sie zahlten ebenso wie Egel zum Stamm der Anneliden, der Ringelwurmer, und stellten im Grunde keine wirklich komplizierte Lebensform dar. Dass sie die Zoologen dennoch faszinierten, hatte andere Grunde. Polychaten gehorten zu den altesten bekannten Lebewesen uberhaupt. Fossile Funde belegten, dass sie seit dem Mittleren Kambrium in nahezu unveranderter Form existierten, und das lag immerhin rund 500 Millionen Jahre zuruck. Wahrend man sie in Su?wasser oder feuchten Boden selten antraf, bewohnten sie samtliche Meere und Tiefen in gro?er Zahl. Sie lockerten das Sediment auf und dienten Fischen und Krebsen als Nahrung. Die meisten Menschen ekelten sich vor ihnen, schon weil die Exponate durch die Konservierung in Alkohol ihre prachtigen Farben verloren. Johanson hingegen erblickte die Uberlebenden einer versunkenen Welt, und was er sah, erschien ihm von ausnehmender Schonheit.
Einige Minuten betrachtete er die rosa Korper mit den tentakelartigen Auswuchsen und wei?en Borstenbuscheln in dem Behalter. Dann betraufelte er die Wurmer nacheinander mit Magnesiumchlorid-Losung, um sie zu relaxieren. Es gab verschiedene Moglichkeiten, einen Wurm zu toten. Die gangige war, ihn in Alkohol zu legen, in Wodka oder klaren Aquavit. Aus menschlicher Sicht versprach das einen Tod im Vollrausch, also nicht die schlechteste Art des Ablebens. Die Wurmer sahen das anders und zogen sich im Todeskampf zu einem harten Klumpen zusammen, wenn man sie nicht vorher entspannte. Dazu diente das Magnesiumchlorid. Die Muskeln der Tiere erschlafften, und im Folgenden konnte man mit ihnen anstellen, was man wollte.
Vorsichtshalber fror er einen der beiden Wurmer ein. Es war immer gut, ein Exemplar in Reserve zu haben, wenn man zu einem spateren Zeitpunkt genetische Analysen durchfuhren oder stabile Isotope untersuchen wollte. Den zweiten Wurm fixierte er in Alkohol, betrachtete ihn wieder eine Weile, legte ihn auf eine der Arbeitsflachen und verma? ihn. Er notierte knapp siebzehn Zentimeter. Dann schnitt er ihn der Lange nach auf und stie? einen leisen Pfiff aus.
»Junge, Junge«, sagte er. »Du hast aber schone Bei?erchen.«
Auch innerlich wiesen die charakteristischen Bauplane das Wesen eindeutig als Ringelwurm aus. Der Russel, den der Polychat beim Beutefang blitzschnell ausfahren konnte, lag eingestulpt in der Korperhulle. Er war bestuckt mit Chitinkiefern und mehreren Reihen winziger Zahne. Johanson hatte schon eine ganze Reihe dieser Kreaturen von innen und au?en gesehen, aber die Gro?e dieser Kiefer ubertraf alles, was er kannte. Je langer er den Wurm betrachtete, desto mehr beschlich ihn der Verdacht, dass diese Art noch nicht erfasst war.
Wie praktisch, dachte er. Ruhm und Ehre! Wann entdeckt man schon mal eine neue Art?
Noch war er sich nicht sicher, also zog er das Intranet zu Rate und stoberte eine Weile im Dateiendschungel herum. Es war in der Tat verbluffend. Es gab diesen Wurm, und es gab ihn wiederum nicht. Allmahlich wurde Johanson wirklich neugierig. So fasziniert war er von seiner Arbeit, dass er beinahe verga?, weswegen er das Tier uberhaupt untersuchte. Als er schlie?lich unter den Glasdachern der Universitatsstra?en zur Cafeteria hastete, war er bereits eine Viertelstunde zu spat dran. Er sturmte ins Innere, erspahte Lund an einem Ecktisch und ging zu ihr hinuber. Sie sa? im Schatten einer Palme und winkte ihm zu.
»Tut mir Leid«, sagte er. »Hast du lange gewartet?«
»Stunden. Ich sterbe vor Hunger.«
»Wir konnen das Putengeschnetzelte nehmen«, schlug Johanson vor. »Es war letzte Woche ausgezeichnet.«
Lund nickte. Wer Johanson kannte, wusste, dass man sich in geschmacklichen Dingen auf ihn verlassen konnte. Sie bestellte Cola zum Essen. Er genehmigte sich ein Glas Chardonnay. Wahrend er die Nase ins Glas hielt, um etwaige Spuren von Kork zu erschnuffeln, rutschte Lund unruhig auf ihrem Sitz hin und her.
»Und?«
Johanson trank einen kleinen Schluck und schmatzte mit den Lippen.
»Anstandig. Frisch und ausdrucksstark.«
Lund sah ihn verstandnislos an. Dann verdrehte sie die Augen.
»Schon gut.« Er stellte das Glas zuruck und schlug die Beine ubereinander. Irgendwie fand er Spa? daran, ihre Geduld zu strapazieren. Zumal, wenn sie an einem Montagmorgen mit Arbeit aufwartete, verdiente sie es, auf die Folter gespannt zu werden. »Anneliden, Klasse der Polychaten, so weit waren wir ja schon. Du erwartest hoffentlich keinen umfassenden Bericht, das wird Wochen und Monate dauern. Vorlaufig wurde ich deine beiden Exemplare entweder als Mutation einstufen oder als neue Art. Oder auch beides, um genau zu sein.«
»Du bist alles andere als genau.«
»Verzeihung. Wo exakt habt ihr die Dinger raufgeholt?«
Lund beschrieb ihm die Stelle. Sie lag ein erhebliches Stuck vor dem Festland, dort, wo der Norwegische Schelf in die Tiefsee abfiel. Johanson horte nachdenklich zu.
»Darf man fragen, was ihr da treibt?«
»Wir untersuchen Kabeljau.«
»Oh. Es gibt noch welchen? Wie erfreulich.«
»Lass die Witze. Du kennst doch die Probleme, wenn man ans Ol will. Wir wollen uns hinterher nicht vorwerfen lassen, irgendetwas au?er Acht gelassen zu haben.«
»Ihr baut eine Plattform? Ich denke, die Forderung geht zuruck.«