Admiral Bolithos Erbe: Ein Handstreich in der Biskaya
Bolitho sah ihm nach, als der Leutnant zur Treppe eilte. Ohne Zweifel wurde Remond in Lorient von einem Vorgesetzten erwartet.
Die Soldaten fielen neben ihrem Gefangenen in Schritt, und kurz darauf fand sich Bolitho in der Zelle wieder. Allein.
VIII Die Ceres
Erst nach einer ganzen Woche Einzelhaft wurde Bolitho aus der Zelle geholt und in eine verdunkelte Kutsche gesetzt, die ihn in das neue Gefangnis bringen sollte. In diesen sieben Tagen hatte er all seine Selbstbeherrschung und Entschlu?kraft benotigt, um nicht zusammenzubrechen. Mehr als einmal hatte er in den endlosen Stunden der Vorsehung gedankt, da? der in der harten Schule des Marinedrills gestahlt worden war.
Seine Bewacher mu?ten speziell wegen ihrer Grobheit und Brutalitat ausgesucht worden sein, und ihre schlechtsitzenden Uniformen machten sie nur noch bedrohlicher.
Sie zwangen Bolitho, sich nackt auszuziehen, dann durchsuchten sie ihn und raubten ihm auch den letzten privaten Gegenstand, den er noch besessen hatte. Zuletzt rissen sie die Epauletten und Goldknopfe von seinem Uniformrock, wahrscheinlich um sie als Souvenirs zu verhokern. Und wahrend der ganzen Prozedur demutigten und beschimpften sie ihn nach Kraften. Aber Bolitho durchschaute die Manner und machte sich keinerlei Illusionen: Sie suchten nur einen Vorwand, um ihn zu toten; als er stumm und au?erlich ruhig blieb, lie?en sie ihn fur ihre Enttauschung bu?en. Nur einmal hatte er beinahe die Beherrschung verloren. Ein Soldat hatte ihm das Medaillon vom Hals gerissen und es lange neugierig angestarrt. Bolitho hatte den Unbeteiligten markiert, obwohl er dem Mann am liebsten an die Kehle gesprungen ware und ihn erwurgt hatte, bevor ihn die anderen unschadlich machen konnten.
Der Soldat hatte das Medaillon mit seinem Bajonett aufgebrochen und blode der Haarlocke nachgestarrt, die herausgefallen war und durch die offene Tur davonwehte.
Aber das Medaillon war aus Gold, das schien ihn zufriedenzustellen. Zum Gluck ahnte er nicht, was es fur Bolitho bedeutete: Es war ein Geschenk Cheyneys, seiner verstorbenen ersten Frau, das sie ihm zusammen mit einer Locke ihres Haars bei ihrem letzten Abschied gegeben hatte.
Da er weder eine Uhr noch Gefahrten besa?, verlor er bald jedes Zeitgefuhl, jedes Empfinden fur die Vorgange jenseits der Zellenmauern. Als er auf den Hof gefuhrt wurde und die Kutsche warten sah, war er dankbar. Das neue Gefangnis mochte schlimmer sein, ihn vielleicht sogar mit einem Exekutionskommando empfangen — aber wenigstens war die Zeit des Wartens endlich vorbei.
In der verhangten Kutsche stie? er auf seine Gefahrten von der Styx. Das war fur alle eine bewegende Uberraschung. Als die Kutsche anrollte und die Eskorte sich hinter ihr formierte, schuttelten sie einander die Hande, musterten wortlos die Gesichter der anderen in dem sparlichen Licht, das durch die Blenden fiel.
Schlie?lich sagte Bolitho:»Da? Sie hier sind, ist meine Schuld. Hatte ich den Franzosen mein Ehrenwort gegeben, waren Sie vielleicht in die Heimat entlassen worden. Aber nun«, er zuckte die Achseln,»sind Sie genauso Kriegsgefangene wie ich.»
Allday schien sich daruber zu freuen; oder war es Erleichterung, Bolitho noch am Leben zu finden?
«Bei Gott, Sir«, explodierte er,»ich bin froh, da? wir das Gesindel los sind!«Er hob die gro?en Fauste und schuttelte sie drohend.»Noch ein paar Tage bei diesen Laffen, und ich hatte ihnen eine gelangt!»
Neale, der zwischen Browne und Allday lehnte, von ihnen ge-. stutzt, ergriff Bolithos Hand. Er trug einen dicken Kopfverband, und sein Gesicht war totenbla?.»Wieder beisammen«, flusterte er.»Jetzt werden wir's ihnen zeigen.»
Leise sagte Allday:»Er gibt sein Bestes, Sir. «Traurig wiegte er den Kopf.
Browne berichtete:»Ich wurde von zwei franzosischen Offizieren vernommen, Sir. Sie fragten mich nach Ihnen aus. Spater horte ich sie uber Sie sprechen und merkte, da? sie sich Ihretwegen Sorgen machten.»
Bolitho nickte.»Sie gaben aber nicht zu erkennen, da? Sie gut franzosisch sprechen?»
Browne lachelte nur, und Bolitho erinnerte sich wieder an die anderweitigen Qualitaten seines Adjutanten. Immerhin ein Punkt zu ihren Gunsten.
Die Kutsche wurde schneller, so da? Browne sich an einem Gurt festhalten mu?te.»Es war die Rede davon, da? noch mehr Landungsfahrzeuge nach Lorient und Brest abgestellt werden sollen. Offenbar handelt es sich um zwei verschiedene Bootstypen. Einmal sprachen sie von einer chaloupe de cannoniere, ein andermal von einem kleineren Boot, einer peniche. Wie es sich anhorte, bauen sie Hunderte davon.»
Bolitho entdeckte, da? er diese Informationen mit kuhlem Kopf in seine Uberlegungen einbeziehen konnte. Die lange Einzelhaft hatte moglicherweise einen Ha? in ihm geweckt, der ihm jetzt half, eiskalt einen Gegenschlag zu planen.
Er sah Neale haltlos in Alldays stutzendem Arm hin und her schwanken. Sein Hemd stand bis zum Gurtel offen und enthullte Kratzspuren auf der Brust, wo ihm offenbar jemand das Medaillon heruntergerissen hatte, das Neale immer getragen hatte: mit einem Bild seiner Mutter. Der Armste war nur noch ein Schatten seiner selbst. Womit beschaftigte sich sein verwirrter Geist? Mit seiner geliebten Styx, mit zu Hause oder mit dem Schicksal seines Ersten Offiziers, des schweigsamen Mr. Pickthorn, der ihm gedient hatte wie ein verlangerter Arm?
Wenn ich mich anders entschieden hatte, lage Neale jetzt gut versorgt im Hospital, dachte Bolitho.
Sie verbrachten die Fahrt vor sich hin dosend, schreckten aber immer wieder auf, um sich zu vergewissern, da? sie wirklich wieder alle vereint waren und das Wiedersehen nicht nur getraumt hatten. Ohne zu wissen, wohin die Reise ging oder wo sie waren, ertrugen sie die druckende Hitze in der halbdunklen, ungelufteten Kutsche.
Mehrmals wurde ein Halt eingelegt, die Pferde wurden getrankt oder gewechselt, auch schob man ihnen Brot und Wein ins Innere, ohne sie auch nur eines Blickes oder eines Wortes zu wurdigen. Stets ging es so schnell wie moglich wieder weiter.
«Wenn man uns abermals trennt, mussen wir versuchen, irgendwie in Verbindung zu bleiben. «Bolitho horte eine Kutsche in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbeirasseln; also befanden sie sich jetzt auf einer breiteren Stra?e.»Ich habe vor zu fliehen, zusammen mit Ihnen allen. «Er spurte, wie sie ihn anstarrten, wie plotzlich Hoffnung in ihnen aufflackerte.»Wenn einer von uns fallt oder ergriffen wird, dann mussen die anderen unbedingt weitermachen. Irgendwie mussen wir die Informationen uber die franzosischen Invasionsvorbereitungen und uber ihr neues Telegraphensystem nach England bringen.»
«Aber nur gemeinsam«, grunzte Allday.»Und wenn ich Sie, mit Verlaub, auf dem Rucken tragen mu?, Sir. Dann wartet England eben ein bi?chen langer.»
Browne gluckste vor unterdrucktem Lachen, was ihnen allen wohltat in dieser Situation, in der sie nicht wu?ten, ob sie den nachsten Tag noch erleben wurden. Aber er ermahnte Allday:»Nehmen Sie sich nicht zuviel heraus. Sie sind der Steward des Admirals, nicht sein Bootsfuhrer, denken Sie daran.»
Allday grinste.»Mal sehen, ob ich das schaffe.»
Bolitho hob die Hand.»Still!»
Er versuchte, eine Fensterblende zu lockern, bekam sie aber nur einen schmalen Spalt auf. Die anderen lie?en ihn nicht aus den Augen, als er das Gesicht dagegenpre?te.
Leise sagte er:»Das Meer — ich kann es riechen.»
Dann blickte er sie an, als hatte er ihnen gerade etwas Wunderbares mitgeteilt. Das Meer — fur Seeleute war es tatsachlich so etwas wie eine Offenbarung. Auch wenn man sie jetzt wieder in eine stinkende Zelle sperrte, sie wu?ten, die See war nicht weit. In jedem Seemann sa? tief die Uberzeugung verwurzelt: Wenn er es erst bis zur See geschafft hatte, dann wurde er irgendwann, irgendwie auch in die Heimat gelangen.