Admiral Bolithos Erbe: Ein Handstreich in der Biskaya
Die Kutsche hielt, ein Soldat offnete die Fenster, um frische Luft hineinzulassen.
Bolitho ruhrte sich nicht, doch seine Augen waren uberall.
Keine Spur von Wasser, aber hinter einer Reihe niedriger, rundgeschliffener Hugel konnte man das Meer erahnen. Auf der anderen Seite der Stra?e erstreckte sich weit und breit durres Brachland. Eingehullt in dicke Staubwolken, exerzierte darauf Kavallerie und erinnerte Bolitho an das monumentale Schlachtengemalde im
Salon des Admirals.
«Wie unsere Eskorte«, murmelte Browne.»Franzosische Kurassiere.»
Bolitho horte ein Trompetensignal und sah die Sonne auf schwarzen Helmbuschen und Brustpanzern glanzen. Dann schwenkte das Karree ab und verschwand galoppierend hinter einer Staubwolke. Offenes Gelande also, gut geeignet fur die Kavallerie, die hier moglicherweise auf die Invasion vorbereitet wurde. Au?erdem war sie fur jeden Fluchtling eine ernsthafte Bedrohung. Als Kind hatte Bolitho oft zugesehen, wie die Dragoner von Truro exerzierten oder paradierten, auch wie sie in der Nahe von Fal-mouth fliehende Schmuggler verfolgten; mit gezogenen Sabeln waren sie hinter ihnen ins Moor galoppiert.
Nur zu bald wurden die Fenster wieder geschlossen, und die Kutsche ruckte an. Bolitho begriff, da? das Fenster zur Warnung geoffnet worden war, nicht aus Erbarmen. Worte hatten es nicht klarer ausdrucken konnen, welche Bedrohung von diesen martialischen Kurassieren ausging.
Der Abend dammerte schon, als sie endlich mit steifen Gliedern aus der Kutsche klettern durften. Der junge Offizier, der die Eskorte gefuhrt hatte, handigte einem Beamten in blauem Rock einige Papiere aus, dann nickte er den Gefangenen kurz zu und machte auf dem Absatz kehrt, offenbar heilfroh, da? er die Verantwortung los war.
Bolitho blickte an dem Beamten vorbei, der immer noch muhsam seine Papiere entzifferte, auf das gedrungene Gebaude, das offenbar ihr neues Gefangnis werden sollte: hohe steinerne Mauern, keine Fenster, und in der Mitte wohl ein Turm, der hinter dem Tor im Schatten gerade noch zu erkennen war. Eine alte Festung oder eine Kustenwachstation, die im Lauf der Jahre erweitert worden war.
Der Mann in Blau hob jetzt den Blick und deutete aufs Tor. Einige Soldaten, die bisher die Ankommlinge nur beobachtet hatten, formierten sich zu zwei Reihen, nahmen die Gefangenen in die Mitte und marschierten mit ihnen hinein.
In einem kahlen Raum mu?ten sie warten, an die Wand gelehnt, bis schlie?lich ein altlicher Milizhauptmann erschien.»Ich bin Capitaine Michel Cloux, der Festungskommandant«, teilte er ihnen mit.
Er hatte ein schmales Fuchsgesicht, aber seine Augen blickten nicht gehassig; eher schon schien ihm seine neue Aufgabe Sorgen zu machen.
«Sie sind hier als Kriegsgefangene Frankreichs und haben ohne Widerrede allen meinen Anweisungen zu folgen. Verstanden? Auf Fluchtversuch steht die Todesstrafe. Auch jeder Widerstand gegen die Obrigkeit wird mit dem Tode bestraft. Aber wenn Sie sich anstandig auffuhren, haben Sie nichts zu befurchten. «Sein Blick blieb Allday hangen.»Ihr Steward wird entsprechend eingewiesen werden.»
Neale stohnte auf und taumelte gegen Browne, der ihn stutzte.
Irritiert blickte der Kommandant in seine Papiere und fugte etwas milder hinzu:»Ich lasse den Feldarzt kommen fur — ah — Capi-taine Neale, nicht wahr?»
«Danke, das wu?te ich sehr zu schatzen. «Bolitho sprach leise, um nicht seinen hohen Rang zu betonen, wodurch alles nur schlimmer geworden ware. Neales schlechter Zustand hatte einen menschlichen Zug beim Kommandanten zutage gebracht, der zwar sicherlich seine strikten Anweisungen uber die Behandlung und Unterbringung der Gefangenen besa?, aber als alter Soldat sicher selbst schon Kameraden verloren hatte. Trotzdem musterte er Neale we iterhin so argwohnisch, als befurchte er eine Falle.»Sie werden jetzt in Ihre Quartiere gebracht«, sagte er schlie?lich.»Anschlie?end fassen Sie Verpflegung. «Mit gro?er Geste stulpte er sich den Zweispitz auf.»Folgen Sie meinen Soldaten!»
Als sie hinter zwei Wachtposten eine gewundene Steintreppe erklommen, wobei sie Neale halb trugen, damit er nicht fiel, murmelte Allday:»Bestehlen konnen sie mich hier wenigstens nicht. Weil ich namlich nichts mehr besitze.»
Bolitho dachte an das Medaillon mit ihrem Portrat; und an Cheyneys Gesicht, als er sie zum letztenmal gesehen hatte. Allday mochte recht haben: Das Medaillon war ein Verbindungsglied zur Vergangenheit gewesen, die jetzt so ferngeruckt war. Geblieben war nur die Hoffnung, und die wollte er sich um nichts in der Welt nehmen lassen.
Eintonig vergingen die Tage fur Bolitho und seine Mitgefangenen. Sie wurden karg und primitiv verkostigt, aber ihre Warter a?en auch nicht besser. Bald fanden sie heraus, da? sie die einzigen Insassen des kleinen Gefangnisses waren, jedenfalls im Augenblick. Denn als Bolitho und Browne unter Bewachung einmal vor den Toren Spazierengehen durften, kamen sie an einer mit Einschu?lochern ubersaten Mauer und einigen hastig aufgeworfenen Grabhugeln vorbei: Anzeichen dafur, da? ihre Vorganger hier vor einem Exekutionskommando das Leben gelassen hatten.
Der Festungskommandant visitierte sie jeden Tag und hielt auch sein Wort, was den Arzt fur Neale betraf. Bolitho erkannte in ihm denselben Arzt wieder, der in Nantes den Arm des jungen Leutnants amputiert hatte; und Browne hatte gehort, da? er von seinem Heimweg in die Kaserne sprach, der einen Ritt von drei Stunden erforderte.
Diese sparlichen Informationen waren ihnen bei der totalen Isolation, in der sie gehalten wurden, sehr wichtig. Sie rechneten sich aus, da? Nantes etwa zwanzig bis drei?ig Meilen ostlich von ihrer Festung liegen mu?te. Daraus ergab sich, da? ihr Gefangnis knapp zwanzig Meilen von der Stelle trennten, wo sie nach ihrem Schiffbruch an Land getaumelt waren.
Bolitho war uberzeugt, da? sie damit richtig vermuteten. Man hatte sie zunachst landeinwarts geschafft und anschlie?end wieder zur Kuste, diesmal allerdings naher bei der Loire-Mundung. Die Seekarte dieses Gebiets hatte Bolitho im Kopf: heimtuckische Riffe und Sandbanke, an denen schon viele Seefahrten begonnen hatten, aber ebenso viele auch gescheitert waren.
Ihm war aufgefallen, da? der Kommandant sie immer nur zu zweit zum Ausgang vor die Mauern lie?. Die anderen blieben demnach als Geiseln zuruck. Vielleicht waren die Graber stumme Zeugen fur den Versuch ihrer Vorganger, den kleinen Kommandanten zu uberlisten; sie hatten ihren Irrtum teuer bezahlt.
Eines warmen Morgens im August traten Bolitho und Brown vor das Tor, aber statt sich wie gewohnt auf der Stra?e zu halten, richtete Bolitho den Schritt nach Westen, auf eine niedrige Hugelkette zu. Ihre drei Bewacher, beritten und gut bewaffnet, erhoben keine Einwande; willig trotteten ihre Pferde hinter den Gefangenen uber die Wiese, weg von der Festung. Bolitho hatte mit einem scharfen Verbot gerechnet, aber vielleicht langweilten sich die Wachen auf dem immer gleichen taglichen Weg und waren fur die Abwechslung ganz dankbar.
Bolitho mu?te sich kurz vor dem Hugelkamm bewu?t beherrschen, damit er den Schritt nicht beschleunigte.
«Herrgott, ist das ein Anblick!«rief Browne begeistert aus.
Zu ihren Fu?en erstreckte sich auf beiden Seiten die tiefblaue See, flimmernd im glei?enden Vormittagslicht und stellenweise dunstverhullt wegen der Hitze. Bolitho erkannte Stromungen und Wirbel rund um einige kleine vorgelagerte Inseln und weit im Norden den dunklen Schatten von Land: wohl das jenseitige Ufer der Trichtermundung. Schnell sah er sich nach den Wachtposten um, aber die achteten nicht auf sie. Zwei waren vom Pferd gestiegen, nur der dritte sa? noch im Sattel, eine Hakenbuchse schu?bereit quer vor sich.
Bolitho sagte:»Wenn ich recht habe, sollte hier irgendwo ein Kirchturm sein.»
Browne hob schon den Arm, aber Bolitho zischte:»Nicht deuten! Beschreiben Sie ihn mir.»
«Er steht links von uns, Sir. Auf der fensterlosen Seite der Festung.»